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Missverständnisse über Afghanistan, die aufhören müssen

Photo: courtesy of Shaharzad Akbar
Wenn amerikanische Publikationen Nachrichten über Frauen in Afghanistan bringen, konzentrieren sie sich oft darauf, wie gefährlich das Land ist. Vierzehn Jahre nach der amerikanischen Invasion – die angeblich der Befreiung von Frauen und Mädchen vom unterdrückerischen Taliban-Regime dienen sollte, das ihnen Bildung, Bewegungsfreiheit und persönliche Autonomie verweigerte –, stehen diese Frauen und Mädchen noch immer vor vielen Herausforderungen. Aber das ist nur ein kleiner Teil des Gesamtbilds. Shaharzad Akbar machte es sich zur Aufgabe, das Leben der Menschen in Afghanistan zu verbessern, insbesondere das Leben von Frauen. Akbar, 27 Jahre alt, ist momentan die Leiterin von Open Society Afghanistan und ist eine Mitbegründerin von Afghanistan 1400, einer Gruppe, deren Ziel es ist, junge Afghanen in den politischen Prozess zu integrieren. Akbars Familie floh aus dem Land, als die Taliban die Macht ergriffen haben und kehrten erst nach der Invasion im Jahre 2001 zurück. Nachdem sie das Smith College in Massachusetts abgeschlossen hatte, wurde sie 2011 zur ersten afghanischen Frau, die einen Master-Abschluss in Oxford erhielt. Refinery29 hat sich mit Akbar im Büro der Open Society in Manhattan getroffen, um mit ihr über ihre Arbeit, Frauen in Afghanistan und die "globale Schwesternschaft" zu reden.

Können Sie uns von einer Erinnerung aus Ihrer Jugend in Afghanistan erzählen, die für Sie besonders ist?
"Als ich 10 oder 11 Jahre alt war lebten wir in einem sehr alten Haus in Mazar-e-Sharif im Norden Afghanistans, das einen sehr schönen Garten hatte. Ich erinnere mich daran, wie ich tagein tagaus im Garten saß und gelesen habe. Meine Füße waren im Pool und alles war so ruhig und friedlich. Ich habe viel Literatur gelesen. "Eine andere meiner Erinnerungen ist auch aus Nord-Afghanistan. Wir lebten in Sheberghan und der Sommer dort kann unerträglich heiß werden. Ich erinnere mich daran, wie mein Vater und ich klassische Musik gehört haben, nachdem die heißesten Stunden vorübergingen und der Tag sich dem Abend näherte. Afghanistan hat eine äußerst reiche musikalische Tradition, insbesondere im Bezug auf traditionelle Volksmusik. Daher hörten wir uns klassische Musik oder Volksmusik an und lasen Poesie. "Ich denke, dass ich an diesen Abenden wirklich gelernt habe stolz auf meine Herkunft zu sein anstatt auf Afghanistan zu schauen und zu denken, dass wir arm, vom Krieg geplagt und verrückt sind. Statt dessen denke ich, dass wir ein Land mit einer interessanten Vergangenheit sind. Es gibt vieles in unserer Kultur, auf das wir stolz sein können und es gibt vieles, was uns als Land zusammenbringt – ob Musik, Poesie oder Literatur."
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Wie sind Sie an Ihre Bildung gekommen und wie haben Sie es geschafft, in den USA und in Oxford zu studieren?
"Ich hatte sehr, sehr viel Glück Eltern zu haben, die ständig in meine Bildung investiert haben, ganz unabhängig davon, was im Land vor sich ging. Wir waren Migranten, im Krieg, draußen flogen Kugeln. Und meine Eltern sagten: "Bildung ist die Priorität; du darfst nie deine Hausaufgaben vergessen, du darfst nie deine Bildung versäumen. Du musst weiterhin lesen, du musst weiterhin lernen." "Ich denke, dass ihre Vision definitiv einen starken Einfluss auf mein Leben hatte. Aber ich hatte auch wirklich sowas wie Glück; ich habe Leute getroffen, die mich unterstützt haben und die in mir etwas gesehen haben, was ich zu der Zeit selbst nicht sehen konnte ... Ich dachte mir "ich werde es nicht schaffen in den USA zu studieren, ich werde definitiv versagen und nicht einmal das erste Semester überstehen. Ich habe in Afghanistan studiert, wie kann ich mich mit amerikanischen Studenten messen, die Jahre an Vorbereitung für ihr College durchlaufen haben?". Mentoren und Leute, die an mich glaubten, reagierten darauf in etwa wie "Nein, du kannst es schaffen, versuch es einfach.""
Was sind die häufigsten Fehlannahmen, die die Leute im Bezug auf Afghanistan haben?
"Ich sehe, dass viele Leute außerhalb Afghanistans, nicht nur Amerikaner, denken dass Afghanen ein universelles Problem haben, was die Bildung von Frauen angeht. Ich denke, dass es hierbei eine wichtige Veränderung gibt, die anerkannt werden muss – und das afghanische Volk machte sie möglich. Ich denke, dass die Grundschulbildung für Mädchen in Afghanistan bereits nahezu universell ist. "Die Leute investieren in die Bildung ihrer Töchter. Sie schicken ihre Töchter an private Universitäten, das ist etwas, was vor 30 Jahren unvorstellbar gewesen wäre, dass ein Afghane Geld dafür ausgeben würde, dass seine Tochter eine Hochschulbildung erhält! Dabei handelt es sich nicht immer um gebildete Familien. Darunter sind auch Familien, in denen beide Eltern analphabetisch sind, aber ihnen ist klar geworden, wie wichtig Bildung für eine Frau sein kann und wie es ihr ermöglichen kann, ihre Bildung dem Rest der Familie weiterzugeben – auch das spielt eine Rolle."

Erzählen Sie uns, woran Sie momentan arbeiten.
"Ich bin die Landesdirektorin der Open Society Afghanistan und die Bereiche, auf die wir uns momentan fokussieren, sind Frauenrechte, Rechtsstaatlichkeit und eine gute Regierung, bei der wir besonderen Wert auf Frieden und Versöhnung legen und deren zivilgesellschaftliche Institutionen und Medien wir beim Übergang unterstützen. "Zusätzlich zu meiner Arbeit bei Open Society Afghanistan bin ich auch ein Mitglied von Afghanistan 1400, was eine politische Jugendbewegung ist. Es geht dabei grundsätzlich um ein kollektives Bestreben zur Mobilisierung der Jugend für demokratische Werte und die Idee eines geeinten Afghanistans."

Was bringt Sie dazu bleiben zu wollen, trotz der permanenten Sorgen um die Aussichten auf Langzeit-Stabilität?
"Afghanistan ist mein Zuhause und ich glaube daran, dass es viel Potenzial hat. Wegen all der schweren Zeiten, die wir durchgemacht haben, glaube ich, dass die Mehrheit der Afghanen wirklich den Wert des Friedens versteht. Sie verstehen wirklich den Wert der Demokratie; Demokratie im Sinne dessen, in der Lage zu seine Regierung wählen zu können; Demokratie im Sinne dessen, Macht von einer Person zu anderen zu übertragen, ohne Gewalt – friedlich. "Ich denke, dass es leider weiterhin Gewalt geben wird. Ich bin ein optimistischer Mensch, aber ich verstehe auch, dass die Gewalt nicht in naher Zukunft verschwinden wird, weil die Wurzeln der Gewalt sehr, sehr tief in meiner Gesellschaft verankert sind. Meine Gesellschaft wurde traumatisiert, sie lebt in Gewalt und Missverständnissen. "Ich glaube an meine Arbeit, so lange es Menschen in Afghanistan gibt, die an Afghanistan glauben. Es gibt Menschen, die an mehr als ihr eigenes Überleben und das Überleben ihrer Familien glauben und es gibt so viele dieser Menschen, denen ich jeden Tag begegne und die mich auch weiterhin inspirieren."
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Wie erfolgreich waren Sie im Rahmen Ihrer Arbeit im Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter? Was waren die Herausforderungen, denen Sie begegneten?
"Ich bin mir sicher, dass Sie vieles darüber von den Medien gehört haben – von Belästigung bis hin zur Intoleranz weiblicher Aktivitäten außerhalb des Hauses. "Was sehr vielversprechend war, ist die Tatsache, dass wir in den letzten 14 Jahren eine Welle junger Frauen hatten, die als erste in ihren Familien, und mitunter auch als erste in ihren Gemeinschaften, Zugang zu Hochschulbildung und zu Jobs hatten, die über die Möglichkeit verfügten, ein Einkommen zu verdienen. Das ist eine kleine Gruppe, aber die sozialen Auswirkungen sind immens. Sie sind Pioniere und sie Verändern die Vorstellungen der Menschen im Bezug auf Geschlechterrollen. "In meiner eigenen Familie habe ich einige Cousinen, die in Kabul studieren. Meine Provinz liegt im Nordwesten Afghanistans. Sie waren die ersten in ihrer Familie, die ein Gymnasium abgeschlossen haben. Ihre Mütter sind analphabetisch. Und nicht nur das, sie sind auch die erste Generation, die in eine andere Stadt gereist ist und dort unabhängig studiert und arbeitet. Wenn es eine andauernde politische Stabilität geben wird denke ich nicht, dass afghanische Frauen bereit sein werden zurückzugehen. Sie wollen ihre Bestrebungen fortsetzen und darin sehe ich viel Potenzial und Möglichkeiten."

Eines der Projekte, an denen Sie momentan arbeiten, ist Afghanistan 1400. Was ist das und warum ist es so wichtig?
"Afghanistans Bevölkerung ist überwiegend jung. Allerdings haben junge Leute kaum eine Stimme in der politischen Entscheidungsfindung. Sie werden als Fußsoldaten für die großen politischen Ideen der älteren Generation angesehen oder einfach nur als völlig irrelevant für den politischen Diskurs oder die Macht betrachtet. "Wir sind eine Gruppe junger Leute, die ein besonderes Interesse an der Idee von Demokratie in Afghanistan haben. Wir dachten uns, dass wir versuchen sollten eine Plattform zu erschaffen. Also haben wir uns um die Idee versammelt eine politische Plattform zu erschaffen, die nicht vom Bürgerkrieg in Afghanistan geprägt ist; nicht von dem geprägt ist, was falsch gelaufen ist, sondern sich auf das konzentriert, was in Zukunft richtig gemacht werden kann. "Wir hatten einen starken Fokus auf die Zukunft, daher wählten wir die Zahl 1400. In acht Jahren beginnt in Afghanistan ein neues Jahrhundert. Wir haben außerdem gemeinsame demokratische Grundwerte, wir glauben an die Gleichheit der Geschlechter, wir glauben an Vielfalt und daran, einen Raum für diese Vielfalt zu schaffen. Es war sehr chaotisch und vermutlich viel komplizierter, als wir anfangs dachten, aber am wichtigsten ist, dass wir drangeblieben sind."
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Wie nahm Afghanistan 1400 seinen Anfang?
"Wir hatten die ersten Gespräche darüber im September 2011 und haben uns im Dezember 2012 gegründet – es ist alles also noch sehr, sehr jung. "Wir haben Leute mit unterschiedlichen Bildungsgraden und unterschiedlichen Einflüssen. Einige unserer Mitglieder haben Erfahrungen außerhalb Afghanistans gesammelt, während andere Mitglieder solche Erfahrungen niemals hatten. Was wir gemeinsam haben, ist dass wir die Nachkriegsgeneration sind ... weil unsere Mitglieder erst im Afghanistan nach 2001 politisch und sozial aktiv geworden sind. "Wir haben Leute außerhalb der städtischen Umfelder erreicht und wir haben Einfluss dort, wir erhalten von dort Interesse. Unser Mobilisierungsgrad ist momentan in Kabul am höchsten, daher liegt vor uns noch viel Arbeit."
Auf welche Weise kann der Generationswechsel, den Sie vorantreiben, Ihrer Meinung nach Frauen in Afghanistan helfen?
"Ich denke, dass afghanische Frauen im Afghanistan nach 2002 nur wenige Repräsentanten hatten. Eine große Mehrheit der afghanischen Frauen aus unterschiedlichen Teilen des Landes konnten nicht für sich selbst sprechen. Sie waren auf Übersetzerinnen angewiesen – eine kleinere Gruppe afghanischer Frauen, die in ihrem Namen mit der Welt sprachen. Und dieser kleine Zirkel von Repräsentanten wird größer, immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Teilen des Landes verfügen nun über die Bildung, um sprechen zu können. "Die jüngere Generation von Aktivisten verfügt allerdings noch nicht über das gleiche Gewicht wie die ältere Generation. Daher wird es einen Balanceakt geben, der dafür sorgen muss, dass wir mehr jüngere, aber auch vielvältigere Stimmen im Bezug auf Frauenrechte in Afghanistan hören können. Ich behaupte nicht, dass diese Leute schlechte Vertreter sind oder keine Vertreter sein sollten, aber ich denke, dass wir mehr Vielfalt sehen sollten. Wir alle haben unsere Beschränkungen im Bezug auf die Gruppen von Menschen, die wir ansprechen können und die Zeit, die wir dafür brauchen. Sobald wir den Zirkel ausdehnen, werden wir ein bedeutend komplexeres und verständlicheres Bild der Bedürfnisse afghanischer Frauen in unterschiedlichen Teilen des Landes erhalten, ebenso wie ein Bild der Bedürfnisse der unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Gemeinschaften."
Was können wir tun, um un daran zu beteiligen oder Menschen in Afghanistan zu helfen?
"In Amerika gibt es bald eine Wahl. Ich denke, dass die USA eine sehr starke Macht in der Welt sind. Ihre politischen Entscheidungen haben Auswirkungen auf Menschen in der ganzen Welt. Wenn Amerikaner die Entscheidung treffen, wen sie wählen sollen, denke ich, dass sie einen genauen Blick auf die Außenpolitik ihres Kandidaten werfen sollten. Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Führer weise mit Amerikas Macht in der Welt umgehen werden? "Man kann auch nach Organisationen suchen, die in Afghanistan arbeiten, und sie unterstützen. Falls man einen Gaststudenten aufnehmen kann, einen Beitrag für einen Bildungsfond leisten kann oder einen Think-Tank unterstützen kann, der in Afghanistan arbeitet, dann sollte man das tun."

Welchen Ratschlag würden Sie jungen Frauen geben?

"Eine Sache an die ich glaube ist, dass dieses Jahrhundert ein Jahrhundert der Frauen sein kann – weltweit. So vieles ist passiert. So viel mehr muss noch passieren. Und Frauen, die die Möglichkeit haben zur Schule zu gehen, haben auch die Verantwortung es zu tun. Sie haben außerdem die Verantwortung etwas für Frauen zu tun, egal wie wenig, die diese Möglichkeit nicht haben. "Ich glaube wirklich an eine globale Schwesternschaft. Wir müssen uns jeden Tag daran erinnern, dass wir einige der Dinge die wir tun nicht für uns selbst tun, wir tun sie auch Frauen in der ganzen Welt. Ein Teil unseres Erfolgs geht über persönlichen Erfolg hinaus. "Eine Sache, die für mich wirklich gut funktioniert hat, war es ein unterstützendes Netzwerk zu erhalten, was heißt, dass ich immer nach Mentoren gesucht habe, ebenso wie nach jüngeren Frauen, denen ich helfen konnte, wodurch ich beide Enden genutzt habe – geben und nehmen. Ich habe so vieles von meinen Mentoren gelernt, das man in keinem Lehrbuch finden wird. Daher ist es sehr wichtig, Freundschaften zwischen Frauen zu kultivieren und aktiv andere Frauen zu unterstützen."

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