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Gesellschaft der Starken: Darum bleiben viele psychische Leiden unentdeckt

Photographed by Alexandra Gavillet.
Eines Nachts bin ich gegen 3:00 Uhr mit diesem beklemmenden Gefühl in meiner Brust aufgewacht. Ich konnte mein Herz wie wild schlagen fühlen und meine Gedanken rasten. Wie ich so da lag und in der Dunkelheit an die Decke starrte, ging mir immer wieder diese eine Frage durch den Kopf. Was mache ich hier eigentlich? Zu diesem Zeitpunkt war in meine Leben einiges los. Ich lehrte Interaktionsdesign an der Kunstschule von Kalifornien, betrieb eine eigene Designagentur in San Francisco und hatte gemeinsam mit einigen alten Freunden gerade ein Co-working Space in meiner Heimatstadt Santo Domingo und der Dominikanischen Republik eröffnet. Ich verbachte meine Tage damit von einem Ort zum andern zu rennen, ohne auch nur einen Moment für mich zu haben. Ich war super busy - so busy, dass es mich verrückt machte. Ich war einfach so müde. Vollkommen erschöpft. Für wen machte ich das eigentlich alles? Meine Eltern hatten mir nie Druck gemacht oder versucht mir vorzuschreiben, was ich mit meiner beruflichen Zukunft anstellen oder eben nicht anstellen sollte. Auch mein Ehemann hat mich in meinen Vorhaben immer unterstützt. Niemand zwang mich dazu, die Dinge zu tun, die ich tat. Ich habe es mir selbst ausgesucht mich so fertig zu machen. Und plötzlich wurde mir bewusst: Ich fühlte mich wertlos. Ich versuchte mir selbst - und der Welt - zu beweisen, dass ich etwas wert war. Ich wollte, das die Leute mich sahen. Ich versuchte verzweifelt jedem Moment der Stille aus dem Weg zu gehen. Jedem Moment der Ruhe. Ruhe erstickte mich. Es erfühlte mich mit einer großen Leere, mit der ich nicht umgehen konnte. Ich hatte schon so viele Jahre gelitten. Das überwältigende Gefühl der Wertlosigkeit ist eines der schmerzhaftesten Gefühle überhaupt, weil es so vielen anderen Gefühlen ähnelt: Depression, Angstzustände, Traurigkeit, Überarbeitung. Es versteht sich gut darin, sich zu tarnen. In jener Nacht konnte ich nicht mehr einschlafen. In einem verzweifelt Versuch mich selbst zu schützen, reduzierte ich in den kommenden Wochen mein Pensum: Ich schloss die Agentur, beendet mein letztes Semester als Lehrerin und verkaufte all meine Anteile an dem Co-working Space in der Dominikanischen Republik. Aber mein Burnout hielt noch zwei weitere Jahre an, zwei weitere Jahre voller Beziehungsprobleme, zwei weitere Jahre, in denen ich nicht verstand, wie sehr mich die traumatischen Erlebnisse aus meine Kindheit in meinen täglichen Handeln beeinflussten. Ich wurde als Kind missbraucht. Angefangen hatte das bereits im erschreckend jungen Alter von 7 Jahren (aber in welchem Alter wäre ein Missbrauch auch nicht erschreckend) und dauerte jahrelang an. Bis zum späten Teenageralter lebte ich in einem nahezu toxischen Umwelt aus emotionaler Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch, bis ich schließlich unabhängig genug war, um Zuhause auszuziehen. Manchmal weiß ich nicht, was schlimmer war: Die Vernachlässigung oder der sexuelle Missbrauch. Ich habe die letzten eineinhalb Jahre damit verbracht, mir die Hilfe und Unterstützung zu suchen, die ich brauchte. Bei mir wurden eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Generalisierte Angststörung diagnostiziert, was mir einiges klar machte. Mit Hilfe einer Therapie konnte ich die fatalen Verhaltensweisen erkennen, die man mir beigebracht hatte ebenso wie die negativen Aussagen, die man mir damit vermittelte. Einige Verhaltensweisen meiner Erziehungsberechtigten wiesen sogar starke Ähnlichkeit zu Symptomen einer Borderline Störung auf. Langsam begriff, ich wie sehr meine Eltern mir als Kind Angst gemacht hatten und wie viel auch heute noch davon da war. Heute weiß ich um meine erhörte Aufmerksamkeit, mein Bedürfnis danach Menschen zufrieden zu stellen, ich kenne meine potentiellen Auslöser. Ich weiß um den Einfluss eines generationsübergreifenden Traumas in meiner Familie und ich weiß, dass es seinen Ursprung in häuslicher und sozialer Gewalt hat. Das ist eine Menge zu verarbeiten.

Uns wurde beigebracht, dass Geschichten, wie die meine, eine Ausnahme sind.

Die meisten Leute, die mich kennen, wissen nichts von diesem Teil meines Lebens. Ich bin ein gut-funktionierender, Dinge-erledigender kreativer Profi, was, wie ich heute weiß, eine Reaktion auf mein Trauma ist. Ein Workaholic zu sein, ist meine Art damit umzugehen. Andere bemerken dieses Problem von mir nicht, weil es gesellschaftlich anerkannt ist super produktiv zu sein, egal ob das nun die psychische Krankheit, die es verschleiert, am Ende nur noch verschlimmert. Uns wurde beigebracht, dass Geschichten, wie die meine, eine Ausnahme sind. So ein Trauma ist etwas seltenes und jene die es erleiden, leben in außergewöhnlich unglücklichen Lebensumständen. Doch das könnte von der Wahrheit nicht weiter entfernt sein. Jeden Tag leiden Millionen augenscheinlich gesunde Menschen still vor sich hin, von Schmerz und Scham geplagt, genau wie ich, immer darum bemüht noch härter zu arbeiten, damit niemand etwas bemerkt. Wir haben Angst, dass uns jemand als „gebrochen“ entlarvt. Wir haben Angst Schwindler genannt zu werden. Wir haben Angst, dass uns jemand sagt, wir sollten nicht so feinfühlig sein. Wir würden unsere Schwächen, Ängste und Probleme eher vergraben und uns von ihnen zerfressen lassen (durch Depression, Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Selbstzerstörung), als das Schweigen zu brechen und unser wahres, verletzliches Selbst zu offenbaren. Als eine Gesellschaft, die vor allem auf Lösungen und Perfektion wert legt, versagen wir, wenn es darum geht zu erkennen, welchen immensen Einfluss ein Trauma auf unser Leben haben kann- sowohl ganz individuell als auch im Kollektiv. Wir lassen es nicht zu, dass wir offen und ehrlich trauern - jedenfalls nicht ohne Erlaubnis. Wir sind damit aufgewachsen, dass immer alles perfekt sein muss; Wir arbeiten so hart, um jedem zu zeigen, dass wir unser Leben im Griff haben. Doch die Wahrheit ist, dass wir das nicht haben. Wir wahren lieber den Schein, als offen darüber zu sprechen, wie es in uns aussieht. Das Schweigen muss endlich gebrochen werden. Aus diesem Grund habe ich, gemeinsam mit einer Gruppe von großartigen, talentierten Menschen, denen psychische Gesundheit ebenso wichtig ist, ein kreatives Projekt gestartet: Ein Magazin mit dem Namen Anxy. Es ist ein kunstvolles, intimes und vor allem sehr persönliches Magazin. Wir wollen das Unwissen bekämpfen und mit sehr persönliche Erzählungen ein Gespräch über eben diese einschneidenden Momente anstoßen. Anxy möchte aufzeigen, dass die dunkelsten und verstörendsten Erlebnisse manchmal auch der Anstoß zu einem Wendepunkt im Leben sein können. Um unsere Geschichten - unser Magazin - ins Leben zu rufen, haben wir eine Kickstarter Kampagne gestartet. Wenn auch du an die Notwendigkeit diese Projekt glaubst, fühl dich frei uns auf deine Art zu unterstützen: Leiste einen Beitrag oder erzähle anderen von Anxy. Hilf uns das Stigma, das psychischen Krankheiten anhaftet, zu bekämpfen.

"Nichts quält dich mehr, als eine Geschichte, die du nicht erzählen darfst"
- Maya Angelou Übersetzt von Anna Hackbarth

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