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Warum ich gerne klaue & nicht vorhabe, damit aufzuhören

Illustrated by Isabel Castillo.
Ich betrete die Umkleidekabine mit zwei Blusen und einer 10-Euro-Strumpfhose. Bevor ich meine Hose ausziehe, scanne ich die Ecken der Kabine auf und ab. Keine Überwachungskameras. Ich ziehe also meine Hose aus und schlüpfe in die Strumpfhose. Sie sitzt perfekt, also klemme ich mit aller Kraft die Sicherung ab und ziehe meine Jeans darüber. Als ich rausgehe, spüre ich, dass die Jeans enger sitzt, aber anderen fällt es nicht auf. Ich kaufe die Blusen. Wenn es nach mir geht, ist das, was ich tue, kein grober Ladendiebstahl, sondern ein Kavaliersdelikt. Hier ein Notizbuch, da ein Paar Leggings. Objektiv gesehen ist das moralisch natürlich verwerflich, aber so fühlt es sich gar nicht an. Ich bin in New York in eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, wenn nicht sogar ärmlich, wodurch ich eine nicht zu sättigende Gier nach materiellem Reichtum entwickelt habe. Meine Mutter zog mir regelmäßig Kleidung an, die mir viel zu groß war, mit dem Argument, dass sie mir noch Jahre später passen und wir so Geld sparen würden. An Weihnachten kamen meine vier Geschwister und ich uns jedes Jahr vor wie ein Hindernis. Zum Geburtstag wünschte ich mir niemals Geschenke. Ich war auch nie außerhalb der fünf Stadtteile von New York City. Meine Prom schien mir unnötiger Pomp zu sein, also ging ich nicht hin. Während der Oberschule war ich besessen von der Idee, endlich mehr zu besitzen, doch was die Mittel anging, die mir zur Verfügung standen, waren mir die Hände gebunden: Ich konnte meine Eltern nicht dazu bringen, mehr zu arbeiten, aber genauso wenig konnte ich die Welt zwingen, weniger zu verlangen. Also nahm ich eines Tages in einem großen Bekleidungsgeschäft einfach das Preisschild von einem schwarzen Shirt. Ich brauchte es nicht, trotzdem musste ich es haben. Ich rollte es so klein wie möglich und stopfte es in meine Tasche. Dann ging ich aus dem Laden. Es war einfach. Sehr viel einfacher als ich gedacht hatte. Und schon war ich infiziert.
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Illustrated by Isabel Castillo.
Als ich dann aufs College ging, bekam ich immer nur mit, wie meine Kommilitonen keine großen finanziellen Sorgen hatten. Einmal saß ich in der Vorlesung neben einem Mädchen, das sich auf einer Webseite gerade eine Tasche für 400 Euro in den Warenkorb legte – als wären es Peanuts! Im Grunde genommen fühle ich mich noch immer anders, ausgeschlossen. Ich konnte es zwar kaschieren, aber mich im Alltag mit diesen Menschen gleichzustellen, das schaffte ich nicht. Es ist wirklich nicht so schwer, wie man anfangs denkt. Die Hürde davor ist größer, als die Sache an sich. Es geht dabei eigentlich lediglich um gesunden Menschenverstand. Der Fakt, dass das bisher so einfach gut ging, lässt mich immer weitermachen. Neulich brachte ich ein wunderschönes kleines Notizbuch mit nach Hause und schenkte es meiner Schwester. Sie stand unter Schock: „Du weißt, dass du dafür ins Gefängnis kommen kannst, oder?“, sagte sie ungläubig. „Willst du deine Zukunft wegwerfen, für 20 Euro?“
Illustrated by Isabel Castillo.
Ich sagte ihr, dass sie zu vorsichtig sei und dass die Security in den Geschäften oftmals nur da steht, dass sie tatsächlich nicht genau im Auge behalten, was sich auf der Fläche abspielt. „Außerdem kann man mittlerweile auch online ein kleines Gerät kaufen, mit dem du die gängigen Sicherungen entfernen kannst. Es ist alles schon online!“, erzählte ich ihr, während ihre Gesichtszüge immer weiter entgleisten. „Es ist nicht so, als hätte ich dieses Teil gekauft, keine Sorge“, fügte ich noch hinzu, „das ist pure Geldverschwendung.“ Die Verurteilung meiner Schwester nervt mich, aber in meinem Hinterkopf spielt sich auch ein kleines bisschen Angst ab: Ist mein Glückspensum bald aufgebraucht? Rächt sich mein Karma bald an mir? Vielleicht. Aber Bagatelldiebstahl ist in meinen Augen absolut verhandelbar in diesem Ökosystem größerer Straftaten. Es gibt mich – und dann gibt es Diebe. Kriminelle, die Millionen rauben. Ich persönlich komme mir lediglich vor, wie ein Tropfen Wasser in einem Ozean. Ich alleine werde nie eine Welle verursachen. Also keine Sorge, liebe Marktwirtschaft. Schließlich mache ich das nur bei solchen, die sich das leisten können. Kleinen Geschäften würde ich das nie antun. Die Welt ist nun einmal unfair und die finanzielle Kluft wird immer größer. Kleidung hat die Macht, diese Kluft zu überbrücken. Nennt mich illegal. Nennt mich unmoralisch. Für mich gehört das zum Überleben.

Die in der Geschichte enthaltenen Ansichten sind die der Autorin und stellen nicht die Ansichten von Refinery29 dar. Das Unternehmen unterstützt in keiner Weise jegliche illegale Aktivität.

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