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Wie viel Egoismus verträgt eine Freundschaft?

Foto: Adamson Victoria
Innerhalb einiger meiner Freundschaften bemerke ich derzeit einen seltsame Veränderung: Es fällt mir schwerer, die Leute, die mir eigentlich nahe stehen, um Hilfe oder Gefallen zu bitten, aus Angst, zu viel zu erwarten. Ich habe das Gefühl, die Unzuverlässigkeit, mit der man einander begegnet, steigt an. Die Barrieren, miteinander Sorgen oder Traurigkeit zu teilen, werden immer größer, die emotionale Erreichbarkeit rückt in die Ferne. Was passiert da? Eine Betrachtung auf den Verlauf der Freundschaften:

Die Zwanziger

Nach der Pubertät scheinen die Zwanziger die nächste große Selbstfindungsphase zu sein. Man will sich neu einordnen, nachdem man vielleicht von zuhause auszog, um eigene Wege zu beschreiten. Andere Stadt, neue Freundschaften, Ausbildung, Studium, Praktika, Rumhängen, Hartz4. Alles berechtigte, alles unterschiedliche Wege, die trotzdem dahin drängen, sich selbst zu definieren: Wer bin ich und was will ich sein? Was fange ich mit mir an?
Vor allem das soziale Umfeld und die Freundschaften, die wir haben (oder nicht haben), scheinen diese Fragen zu beeinflussen. Die Shell-Studie von 2015 bestätigt den Trend der vorangegangenen Jahren, dass Freundschaften und gemeinsame Unternehmungen (mindestens) die Freizeit junger Menschen bestimmen. Freundschaften geben Halt, Spaß, Unterstützung und Möglichkeiten der Selbstreflexion. Auf eine enge Bindung innerhalb einer Freundschaft zu verzichten, kann also bedeuten, an Hilfe, Nähe und Chancen der Selbstentwicklung zu sparen. Und, mal ganz ehrlich: Wünschen sich nicht die meisten von uns Zuneigung und das Gefühl, für andere wichtig zu sein, mit ihnen das teilen zu können, was uns bewegt? Berlin und diese Individualisierung
Wieso also erlebe ich es derzeit so stark, dass wir uns immer mehr voneinander entfernen? Ich komme nicht weg von dem Gedanken, dass die Stadt Berlin einen großen Einfluss darauf nimmt. Riesengroß spektakulär, unendliche Vielfalt an Optionen – das Überangebot und die Vorstellung, dass um die nächste Ecke etwas besseres wartet, scheint sich auf unser Verhalten in Freundschaften zu übertragen. Bloß keine festen Zusagen machen, denn vielleicht kommt noch etwas cooleres vorbei. Und falls wir dann schon so weit gekommen sind, Datum, Uhrzeit und Treffpunkt auszumachen, ich mittlerweile aus Gewohnheit nochmal ein paar Stunden vorher online anklopfen, ist der meistgehörte (oder gelesene) Satz: „Oh, mir war nicht so bewusst, dass das so richtig fix war. Ich gehe jetzt doch auf eine Vernissage.“ Du entziehst dich und ich habe irgendwann keine Lust mehr, hinterherzurennen. Also meldet man sich einfach gar nicht mehr beieinander.
Statistiken zeigen, dass für viele Verlässlichkeit die wichtigste Rolle in Freundschaften spielt, dicht gefolgt von dem Wunsch nach offenem, ehrlichem Austausch und dem Teilen persönlicher Empfindungen. Schießen wir uns also nicht selbst ein Eigentor, wenn wir immer auf etwas besseres warten, als das, was offen und ehrlich vor unserer Nase steht, wahrzunehmen? Und dann vielleicht, letztendlich, gar nichts mehr da ist – weil wir das bessere gar nicht mehr erkennen?

Liegt es an mir?

Bei aller harschen Kritik, darf die Selbstkritik nicht ausbleiben. Ich kann ich mich selbst nicht aus allen Entwicklungen herausnehmen. Auch ich bin mal unzuverlässig, auch ich mal mehr mit mir selbst beschäftigt. Gleichzeitig darf ich auch meine Bescheidenheit fallen lassen und sagen, dass ich mir Mühe gebe, ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch zu sein, dass ich gut zuhören kann und andere, die mir nahestehen, gern unterstütze. Geben und nehmen, den Spruch kennen wir alle, bestimmen unsere Beziehungen. Ich gebe gerne und lernte in letzter Zeit, dass es nicht total egoistisch ist, traurig, wütend oder enttäuscht zu sein, wenn man merkt, dass da irgendwie wenig bis gar nichts zurückkommt. Oder dass es manchmal selbstverständlich zu sein scheint, zu nehmen, aber für das Geben hat man keine Zeit (diese Vernissage, ihr wisst ja). Ich weiß, dass ich aufpassen muss, meine gerade emotional aufgeladenen Perspektiven auf die Entwicklungen in einigen meiner Freundschaften nicht überhand nehmen zu lassen und mir Erwartungen zusammenzuschustern, die tatsächlich niemand anderes erfüllen kann. Dennoch stehe ich zu meinen Wünschen und habe, insbesondere durch die Freundschaften, die positiv für beide Seiten geblieben sind, viel gelernt. Dass es realistische und vor allem solche sind, von denen sich meiner Erfahrung nach die meisten Menschen wünschen, dass sie ihnen selbst auch entgegengebracht werden. Empathie, Support, ein gewisses Maß an Zuverlässigkeit, offene Ohren für dich und für mich. Also...
Zu den Zwanzigern gehört der Wandel, man sucht Richtungen, man probiert sich aus und findet Freundschaften, die sich ebenfalls verändern oder ganz verschwinden. Das ist normal und oft sehr gut, denn es trägt zu neuen Erfahrungen und der eigenen Entwicklung bei. Auch Phasen, in denen man die Priorität klar auf sich selbst legt, Grenzen festzulegen und einsehen zu können, gerade selbst zu beschäftigt oder labil zu sein, um ein konstruktives Zuhören geben zu können, sind wichtig. Aber das kann man kommunizieren, anstatt ganz dichtzumachen. Ich persönlich wünsche mir, dass die Freundschaften nicht dadurch enden, dass wir unsere Empathie minimieren, anstatt eines offenen Herzens die Ellenbogen rausspringen und wir mit Scheuklappen unseren Zielen hinterher spurten. Und auch nicht dadurch, dass wir einander wie Ressourcen behandeln, aus denen man endlos schöpfen kann, aber den eigenen Topf verschlossen halten, sowie uns bei emotionaleren Themen in unserem so unantastbarem Harmoniebedürfnis angegriffen sehen und mit einem kurzen „Hm“ den Blick abwenden. Und das dann so weit führt, dass wir uns voreinander immer mehr verschließen und vielleicht viel zu früh und grimmig auseinandergehen. Es kann hier keine Imperative geben, es gibt nur Wünsche und Erwartungen, zu denen man stehen kann und an denen man sich orientiert. Ich kann gar nicht anders, wenn ich mich wohl fühlen möchte. Seit ich das für mich weiß, fühle ich mich ein Stück weit leichter und, mal sehen, vielleicht treffe ich auf der nächsten Ausstellung meine BFF – mit Freundschaftsbändchen und geteilter Herzchenkette.

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