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Ich habe meinen Vater nie kennengelernt – das ist mein Brief an ihn

Foto: Klaus Vedfelt
Du warst mein Held. Als ich klein war, habe ich mir dich als Ermittler vorgestellt, der tagsüber Menschen hilft und komplizierte Fälle löst, und abends investigativ nach seiner kleinen Tochter sucht. In meiner Vorstellung hattest du einen Raum mit allen möglichen Hinweisen und Fotos von mir. Unseren Raum. Das dachte ich zumindest mit zehn Jahren. Seitdem hat sich viel geändert. Nicht ich war es, die ihre Meinung über dich geändert hat, du warst es, der mein zuvor unbeflecktes Bild von dir verändert hat – indem du mich wieder und wieder enttäuscht hast. Ich mag ein Unfall in einem Zelt in Polen gewesen sein. Und es mag sein, dass es damals eine gemeinsame Entscheidung war, dass meine Mutter mich alleine großziehen würde. Aber dann bleib gefälligst einfach weg und baumle mir nicht ständig wie eine Karotte an einer zu langen Schnur vor der Nase herum!
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„Meine Kinder wissen nicht von ihr und sie ist nicht gerade das Lieblingsthema meiner Frau.“

Zu meinem 22. Geburtstag solltest du mein größtes Geschenk sein. Meine Mutter und dritte Vaterfigur hatten Kontakt zu dir aufgenommen. Das erste Mal. Sie hatten dich gefunden und du hattest tatsächlich geantwortet. Leider war keine Quittung beigelegt, dann hätte ich dich umtauschen können. Es war surreal deine Worte zu lesen: „Meine Kinder wissen nicht von ihr und sie ist nicht gerade das Lieblingsthema meiner Frau."Ich bin mir nicht sicher, ob du wusstest, dass ich diese Worte lesen würde – schließlich waren sie an meine Mutter gerichtet – aber das tut auch nichts zur Sache. Sie waren das Erste, was ich jemals von dir las und sie tun noch heute weh. Vor allem, weil ich darin keinerlei Emotion finden konnte. Vermisst du mich? Denkst du an mich? Träumst du von mir? Suchst du nach mir?
Heute will ich dich nicht mehr kennenlernen. Aber ich muss dir ein paar Dinge sagen, denn die Schonfrist ist vorbei. Ich will und kann meine Gedanken nicht mehr mit mir herumtragen, nur um es allen außer mir möglichst einfach zu machen. Du bist mein Vater und solltest diese Dinge wissen. Eigentlich solltest du noch so viel mehr Dinge wissen: meine Lieblingsfarbe, den Klang meiner Stimme, meine Hobbys und die Anzahl meiner Liebeskummer-Tage. Jetzt hast du es mit mir zu tun. Diesmal gibt es kein Verstecken, keine Mutter als Puffer, diesmal spielen wir nach meinen Regeln. Das hier ist meine Wahrheit. Jetzt hörst du die Worte, die ich seit 27 Jahren in meinem Kopf zu einem sinnigen Satz zu formen versuche.
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Vor meinem 22. Geburtstag konnte ich damit umgehen, dass du in meinem Leben nicht vorkommen würdest. Man sagt doch nicht umsonst, dass man das Unbekannte nicht vermissen kann. Aber es gab mehrere Chancen, sogar einen fest verabredeten Zeitpunkt, zu dem du dein ältestes Kind hättest kennenlernen sollen. Du wolltest mich anrufen. An einem warmen Tag im vergangenen Juli, um Punkt 12 Uhr. Ich wusste, du würdest es nicht tun. Trotzdem hatte ich Hoffnung – und deswegen brach mein Herz in Millionen Stücke. Sie liegen immer noch dort, quer verteilt, irgendwo in Polen. Viel Glück beim Suchen. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie du einfach nicht anrufen konntest. Genauso wenig kann ich verstehen, wie du heute mit der Entscheidung, deine Tochter sehnsüchtig auf dich wartend im Stich gelassen zu haben, ruhig schlafen kannst. Liebeskummer ist ein Witz gegen diesen Schmerz.

Bis heute fühle ich mich im Weg und nicht gut genug, immer weniger oder gar nichts wert.

Die einzige Leistung, die du für mich vollbracht hast, war es, deinen Orgasmus vor 27 Jahren zu genießen. Ich bin mittlerweile erwachsen, musste viel Scheiße durchmachen und hatte nicht immer ein tolles Leben. Aber heute bin ich eine starke Frau mit einer starken Stimme, einer guten Bildung und einem großen Herzen. Nach meinem Platz in deinem suche ich bis heute vergeblich, denn ich weiß nicht, ob du dir überhaupt im Klaren darüber bist, wie sehr mich deine Abwesenheit beeinflusst hat.
Bis heute fühle ich mich im Weg und nicht gut genug, immer weniger oder gar nichts wert. Weil du, mein Vater, die Entscheidung getroffen hast, kein Teil meines Lebens sein zu wollen, obwohl ich dich so sehr gebraucht hätte. Mit deinen anderen Kindern konntest du es besser machen. Du weißt jetzt also, wie es sich anfühlt, eine Tochter zu haben. Ich werde niemals wissen, wie es sich anfühlt, einen Vater zu haben. Wäre ich ein Daddys Girl geworden, das ständig im Arm gehalten werden wollte und wusste, dass ihr Dad für seine kleine Tochter selbst den schlimmsten aller Kriege kämpfen würde? Was für ein schöner Traum…
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Ich hatte Mitleid mit dir und deiner Situation. Ein Kind mit einer fast Fremden zu zeugen, im erzkatholischen Polen, ohne verheiratet zu sein, war sicher nicht einfach. Doch mit jedem Jahr bröckelte die Fassade unseres gemeinsamen Raumes, bis schließlich nur noch die graue Ruine eines Luftschlosses übrig war. Darin war kein Platz mehr für meine warmen, hoffnungsvollen Gedanken, also zerstörte ich sie mit einem Vorschlaghammer.

Ich bekam neue Väter. Manche liebten mich, manche sahen mich als Störfaktor, andere liebten mich ein bisschen zu doll.

Seit ich denken kann, habe ich nie gelernt, richtig mit Männern umzugehen – logisch. Ich weinte viel als Kind. Scheinbar ohne Grund. Scheinbar. In Wirklichkeit waren es sehnsüchtige Schreie nach einem liebenden Vater. Jetzt habe ich Mitleid mit diesem kleinen Mädchen mit den langen Zöpfen, das nur mit ihrer Mutter nach Deutschland zog. Nur sie hatte. Zusammen waren wir Einzelkämpferinnen mit gebrochenen Herzen. Ich bekam neue Väter. Manche liebten mich, manche sahen mich als Störfaktor, andere liebten mich ein bisschen zu doll.
Das hier ist nicht für dich. Das hier ist für mich. Ich weiß, dass du das sowieso nicht lesen wirst und selbst wenn, würdest du es niemals verstehen und um ganz ehrlich zu sein, ist es mir heute egal. Mit dem Schreiben dieses Textes setze ich dich nämlich frei. Ich verspreche hiermit (mir selbst, nicht dir), niemals wieder Kontakt zu dir zu suchen. Etwas, das ich von Anfang an hätte lassen sollen. Schade, dass ich über dich nicht mehr so denken kann wie damals. Als Detektiv mit großer Mission.
Alle sagten, dass das passieren würde. Dass meine Gefühle von Sehnsucht irgendwann zu Wut würden. Unwissenheit lässt einen ja bekanntlich in Glückseligkeit leben. Tja, ich bin nicht mehr unwissend. Du hast das leere Blatt schwarz ausgemalt. Das hier ist der Abschied von einer Begegnung, die es nie gegeben hat.
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