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Rein & raus: Sex ist viel mehr als das

Foto: Dan McCoy.
Kürzlich fiel mir in einem Kundengespräch etwas auf, das ich lange Zeit ignoriert hatte: Die Tatsache, dass Sex nicht zwangsläufig immer ‚Eindringen‘ bedeutet. Beim Begriff der Jungfräulichkeit, zum Beispiel, denken die meisten Leute wahrscheinlich an ein Mädchen, in dessen Scheide noch nie ein Penis eingedrungen war, oder eben an einen Jungen, der dies noch nie getan hat. Diese Annahme basiert auf einer heteronormativen, binären Geschlechterordnung und geht davon aus, dass eine sexuelle Interaktion erst vollständig ist, wenn das männliche Glied in einer Vagina war – im selben Zug schließt sie orale, manuelle und sonstige Arten der sexuellen Stimulation aus. Solche, die Menschen jeder sexuellen Orientierung und jeden Geschlechts ebenso zum Höhepunkt bringen, oft sogar noch öfter als herkömmlicher „Sex“. Vielleicht sollte Jungfräulichkeit als ein Konzept betrachtet werden, das bisher noch nicht zu Ende gedacht wurde. Möglicherweise sollte man zukünftig betonen, dass man sich eigentlich jedes Mal jungfräulich fühlt, wenn man etwas zum ersten Mal tut – egal was. Vielleicht sollte man sogar soweit gehen und sagen – was mir wirklich lieb wäre –, dass es so etwas wie Jungfräulichkeit gar nicht gibt. In vielen Gesellschaften gelten Frauen dann als Jungfrauen, wenn ihr Jungfernhäutchen noch nicht gerissen ist. Ich halte das aus diversen Gründen für lächerlich, vor allem aber deshalb, weil das Jungfernhäutchen beim Sport, durch einen Tampon oder gar im Alltag reißen kann. Ein gerissenes Jungfernhäutchen lässt also keinesfalls grundsätzlich auf Penetration schließen, auch wenn es eine Möglichkeit ist. Manche Menschen werden ohne Jungfernhäutchen geboren, bei manchen sind sie so stark, dass sie trotz Geschlechtsverkehr nicht reißen. Auch bei mir selbst ging ich davon aus, dass ich meine Jungfräulichkeit verloren hatte, als ich das erste Mal einen Penis in mir hatte. Wenn ich jedoch darüber nachdenke, waren alle anderen ersten Male auf sexueller Ebene wesentlich aufregender. Die ersten Berührungen meines Vibrators, zum Beispiel, waren sehr viel berauschender. Und da bin ich bei weitem nicht die Einzige. Um auf die Kundin zurückzukommen, die diesen Post inspiriert hat: Sie hatte ein Problem damit, zu herkömmlichem Geschlechtsverkehr überzugehen. Ich habe sehr lange mit dieser Person gesprochen. Wir haben über Anatomie geredet; ich habe Bücher speziell zu diesem Problem empfohlen. Aber vorwiegend habe ich über all die anderen großartigen Dinge gesprochen, die man im Bett (oder auf dem Küchentisch oder im Badezimmer oder, oder, oder) tun kann, ohne das ganze Penis-in-die-Scheide-Getue. Nach unserem Gespräch hatte meine Kundin ein sichtbares Strahlen in den Augen und war wirklich aufgeregt, Neues auszuprobieren, sexuell mit ihrem Partner in Kontakt zu kommen. Wir waren uns schließlich einig, dass es sich insgesamt um eine positive Situation handelte, die den Weg für intimere Kommunikation ebnete. Es fühlte sich an, als hätten wir gemeinsam einen Kurs in Sexualkunde erfolgreich abgeschlossen, und so ging meine Kundin mit einem Lächeln aus meinem Büro und ich war stolz auf meine augenöffnende Tat. Jungfräulichkeit ist kein mystisches Ritual, keine imaginäre Schwelle, über die man tritt, um offiziell in den Bund der sexuell aktiven Wesen einzutreten. Für mich könnte Jungfräulichkeit auch einfach gar nicht existieren. Ich fühle mich noch immer jungfräulich, wenn ich an all die coolen Dinge denke, die ich noch nicht getan oder erlebt habe. In Anbetracht all der Dinge, die ich schon gemacht habe, finde ich aber gleichzeitig auch keinen einzigen Tropfen Jungfräulichkeit mehr in mir. Vielleicht ist das ganze einfach nur ein Gedankenkonstrukt, das uns, wie so viele Kategorien, dabei helfen soll, die Welt und das zu verstehen, was um uns herum passiert. Es in Schubladen zu stecken, zu vereinfachen. Vielleicht ist es aber auch ein längst überholter Mythos des Geschlechtersystems, in dem es eben nur Männchen und Weibchen gibt. Dann wäre es jetzt allerhöchste Zeit von dieser Zeitverschwendung loszulassen. Jeder soll seine eigene Definition von Jungfräulichkeit artikulieren – Geschlechtsorgane braucht man dazu jedenfalls nicht.

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