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Unlikely Friendships: Seit 14 Jahren befreundet & noch nie persönlich getroffen

Unlikely Friendships: In unserer neuen Textreihe sprechen wir über Freundschaften, die dort entstehen, wo man sie nicht erwartet.
Es muss mit einem einfachen „Hey, cooles Profil!“ begonnen haben, aber so genau kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern. Es war 2003, als ich mich als eine der ersten in meinem Freundeskreis bei MySpace angemeldet habe, um mit Bekannten in den Staaten in Kontakt zu bleiben.
2003, das ist heute ein fernes Zeitalter, in dem man sich noch keine wirklichen Sorgen um Datenschutz und Privatsphäre machte. Ich war gerade 15 Jahre alt und plötzlich mit der Welt verbunden. Auf einmal konnte ich sagen: „Ich kenne da eine*n, in Rio/auf Hawaii/in Kapstadt.“
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Tommy war einer meiner ersten MySpace-Kontakte. Er war „der aus Kalifornien“ – und zählt bis heute zu meinen engsten Vertrauten. Wir tauschten uns aus, schrieben uns Nachrichten, in denen es um Gott und die Welt ging. Im wahrsten Sinne des Wortes: Er war katholisch erzogen worden, ging regelmäßig in die Kirche, glaubte an das, was ihm die Psalme sagten. Er fluchte nicht, nahm keine Drogen, Familie und eine zukünftige Ehe standen für ihn an erster Stelle. Ich dagegen kam mir vor wie die heidnische Ausgeburt einer teuflischen Hedonistin. Dabei war mein Leben für Berliner Verhältnisse nicht einmal sonderlich wild.

Wir riefen einander an, wenn es Probleme gab, schauten Super Bowls und Award-Verleihungen via Skype zusammen.

Er war eher konservativ, ich das Gegenteil. Trotzdem, oder genau deshalb, war der Austausch mit ihm so erfrischend. Ich stieß plötzlich auf verschlossene Türen, anstatt offene einzurennen. Unter meinen liberalen Berliner Freunden, teilweise von anti-autoritären Alt-Hippies erzogen, und, wenn überhaupt, höchstens rudimentär traditionsbewusst, hatte ich eigentlich niemanden, mit dem ich jemals ernsthaft uneinig war. Und plötzlich kannte ich diesen drei Jahre älteren Typen irgendwo im kalifornischen Nirgendwo, mit dem ich Reibungspotenzial in so ziemlich allen Belangen hatte. Musik, Politik, Hobbys – die allgemeine Sicht auf die Dinge ging so weit auseinander, wie man es sich nur vorstellen konnte.
Aber unsere Gespräche wurden sehr schnell sehr vertraut. Wir riefen einander an, wenn es Probleme gab, schauten gemeinsam den Super Bowl und Award-Verleihungen via Skype. Er fieberte aus der Ferne mit, als ich mein Abitur machte und nervös auf einen Studienplatz wartete. Ich hörte ihm zu, als er vom Community College in Kalifornien an die Harvard Law School am anderen Ende des Kontinents ging und sich ihm eine neue Welt öffnete. Wir munterten einander nach Trennungen, Niederlagen und schlechten Tagen auf. Und immer, wenn einer von uns an einem Wendepunkt war, kam der Vorschlag, man könne doch jetzt einfach mal auf den jeweils anderen Kontinent übersiedeln. Aus Spaß, klar, aber auch ein bisschen ernst.
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2007 dann kam der Moment: Ich zog für ein Praktikum nach New York. Tommy war zu dem Zeitpunkt gerade dabei, seinen Master in Harvard zu beenden. New York ist nicht Massachusetts, aber uns trennten gerade mal knappe vier Stunden Autofahrt. Nachdem vier Jahre lang ein Ozean und ein Kontinent zwischen uns standen, sollte ein Treffen eigentlich drin sein. Natürlich kam alles anders als gedacht. Er hatte Prüfungen, ich lebte mich in New York ein, wir verloren das Treffen aus den Augen. In der Zwischenzeit verliebte ich mich in einen anderen Kalifornier, der mich im Februar 2008 auf einen Roadtrip nach Los Angeles mitnahm – und siehe da, Tommy war nach seinen Prüfungen auch wieder zurück in Kalifornien.

Das Treffen fiel aus. Ich hatte ihn als rückständigen, neoliberalen Chauvinisten abgestempelt, er mich als vom Weg abgekommene, unreife Großstädterin.

Zweite Chance auf ein Treffen? Nicht ganz. Der Wahlkampf ging los und alle waren in Aufruhr: Würde es bald den ersten afro-amerikanischen US-Präsidenten geben? Würden gar zum ersten Mal zwei Frauen gegeneinander antreten? Oder wird es doch wieder nur ein alter, weißer Republikaner? Kurz vor meinem Roadtrip telefonierten wir und wollten eigentlich unser Treffen planen. Aber dann gerieten wir in einen Riesenstreit über Politik. Plötzlich war sie wieder da, die Reibung, nur dass dieses Mal die Funken flogen und es zum Brand kam. Das Treffen fiel aus. Ich hatte ihn als rückständigen, neoliberalen Chauvinisten bezeichnet, er mich als eine vom Weg abgekommene, arrogante Großstädterin.
Wir nahmen erst wieder Kontakt auf, als ich ein Jahr später zurück in Deutschland war. Obama war inzwischen Präsident, über Politik mussten wir vorerst also nicht mehr reden. Wir nahmen alte Routinen wieder auf, schauten die Oscars zusammen, wieder den Super Bowl, und wie sich zeigte, war die Reibung immer noch da, nur konstruktiver als im Jahr davor. Wir erzählten einander von der neuen Beziehung, dem neuen Job. Für mein Architekturstudium arbeitete ich plötzlich die Nächte durch, was dazu führte, dass er mir zeitzonenbedingt regelmäßig Gesellschaft leisten konnte. Nach dem Studium fing ich an, gesittet in Büros zu arbeiten, und wich ein bisschen ab von meinem freigeistlichen Pfad. Er hingegen überließ die Juristerei den anderen und ging ins Showbusiness. Den Gottesdienst besuchte er weiterhin, aber jetzt konnte er auch offen über Alkohol, kalifornisches Weed und Nacktheit sprechen, ohne sich dabei an seiner eigenen Spucke zu verschlucken.
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Mittlerweile sprechen wir zwar seltener, aber wann immer wir es schaffen, setzen wir genau dort an, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Es fühlt sich nie fremd an. Er hat sämtliche Phasen meines Lebens miterlebt, hat bezeugen können, wie ich zu der Frau wurde, die ich heute bin, und ist mittlerweile länger in meinem Leben als viele andere Freunde vor mir. Er hat mir immer unterstützend zur Seite gestanden, wenn ich mich gerade mies fühlte, und mich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt, wenn ich mal übermütig war.
Foto: Rea Mahrous.
Unsere Freundschaft ist irgendwie beruhigend. Einerseits kennt er mich nicht wirklich. Andererseits hat er mich fast ausschließlich in sehr intimen Settings erlebt – ich habe ihm Gedanken anvertraut, die sonst niemand kennt. Von ein wenig Alltagsgerede abgesehen, ging es bei uns nie um Smalltalk, sondern nur um das, was uns wirklich beschäftigt. Tommy kennt so gesehen nur meine Essenz und nicht das Drumherum. Zumal er als Außenstehender die nötige Distanz hat, mir in schwierigen Situationen sein neutrales Feedback zu geben. Seit 14 Jahren zählt er zu meinen engsten Vertrauten.
Leider wurden inzwischen alle MySpace-Accounts der ersten Stunde gelöscht, sonst würde ich besser nachvollziehen können, wie unsere Freundschaft begann. Aber so, wie es bisher mit Tommy und mir gelaufen ist, bin ich ziemlich zuversichtlich, dass wir einander noch lange treu sein werden. Wir haben übrigens einen Pakt: Wenn einer von uns heiratet, dann wird der andere eingeflogen, und wenn wir beide bis zu meinem 40. Lebensjahr niemanden finden, dann heiraten wir. Es sind also nur noch um maximal zehn Jahre, bis wir uns definitiv das erste Mal so richtig begegnen.

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