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Warum nicht mal ein Arschloch sein?

NEON trifft bis zur Wahl junge Politiker dort, wo sie offen reden: in der Kneipe. In Husum lernen wir von SPD-Mann Matthias Ilgen, was Wrestling und Politik gemeinsam haben.
Tim Bru00fcning
Wu00e4hrend des Gespru00e4chs fragte sich Christopher Piltz, wie es sich wohl anfu00fchlt, wenn SPD-Mann Matthias Ilgen (r.) auf einen draufspringt.
Vor meinem Treffen mit Matthias Ilgen hatte ich mir einige Videos und Fotos angeschaut, sie waren erschreckend. Ilgen mit wutverzerrtem Gesicht; Ilgen mit aufgerissenem Mund; Ilgen, wie er sich auf einen anderen Mann fallen lässt. Ilgen ist Wrestler, und nach den Bildern zu urteilen, versteht er was vom Kampf und von der Show.
Dazu sitzt Ilgen im Bundestag, er ist der drittjüngste Abgeordnete der SPD, 33 Jahre, politisch ein Jüngling. Wild und jung, so wünscht man sich die SPD, und deshalb habe ich mich mit ihm verabredet.
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Dass mein Bild nicht ganz passt, merke ich, als ich Ilgen in Husum treffe, seinem Heimatort, einem 22.000-Einwohner-Städtchen in Schleswig-Holstein. Ilgen hat das Lokal Athen für unser Treffen vorgeschlagen. Er wartet vor der Tür auf mich, ein Hüne von 1,89 Meter mit Nickelbrille. Er trägt Sakko und Krawatte, am Revers das SPD-Logo. Dabei lag er gerade noch zu Hause auf dem Sofa, wie er später erzählt. Er sagt, als Abgeordneter verlasse er das Haus immer im Sakko. Er findet, das gehört sich so. Innen sitzt man zwischen weißen Statuen und Säulen-Deko, auf den Tischen Stoffläufer. Es ist Ilgens Lieblingsrestaurant.

Matthias Ilgen trinkt Apfelschorle

Vor vier Jahren, als NEON ebenfalls in den Monaten vor der Bundestagswahl junge Politiker traf, führte der SPD-Abgeordnete Carsten Schneider sechs Stunden durch Erfurter Kneipen. Im Kapuzenpullover. Hatte ich deshalb etwas anderes erwartet? Oder halte ich mich zu sehr mit Oberflächlichkeiten auf?
Starten wir in die erste Runde. Ich bestelle ein großes Bier. Ilgen nimmt eine Apfelschorle. "Wenig Saft, viel Selter", bittet er den Kellner. Er trinke fast nie, sagt er, und wenn, dann am liebsten Bacardi-Cola. Als der Kellner Ouzo verteilt, stößt Ilgen mit mir an, immerhin. Ein Kaltstart. Zum Lockerwerden die Frage, die man gerade jedem Genossen stellen möchte: Kann er das Wort Schulz-Effekt noch hören? "Nein, weil wir von einem anderen Effekt profitieren: Wir leiden nicht mehr unter einer Sigmar-Gabriel-Belastung."
Gleich in Angriffsstellung, nach nur einem Ouzo. Vielversprechend, also doch. War Gabriel ein schlechter Parteivorsitzender? "Sicherlich nicht. Aber man kann aus einem Politiker, den die Menschen nicht mögen, kaum einen Sympathieträger formen. Sigmar polarisiert zu stark. Mit ihm hätten wir die Wahl verloren."
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Keine Taktieren, keine diplomatische Zurückhaltung

Ilgen überlegt nicht lange, bevor er antwortet. Kein Taktieren, keine diplomatische Zurückhaltung. Meist redet er los, bevor ich die Frage beendet habe. Ein Wortgewitter, zwischen Lammkoteletts und Apfelschorle.
Tim Bru00fcning
Bei seinem Lieblingsgriechen bestellt Matthias Ilgen, 33, gern auch mal "den perversen Eisbecher, drei Kugeln mit Sahne und Schokosauce"
Stimmen die aktuellen Umfragen, sind die Machtchancen der SPD nicht gut. Dennoch die Frage für den Fall, dass die SPD den Kanzler stellt: Welche Koalition wünscht sich Ilgen? "Eine sozialliberale mit der FDP. Wir haben mit den Grünen genug Windräder gebaut. Und die FDP soll sich endlich aus der Gefangenschaft mit der Union befreien."
Ilgen gehört dem Seeheimer Kreis an, einer konservativen Gruppe in der SPD. Er findet, dass zu viel Geld nach Griechenland geflossen ist. Ilgen sitzt im Verteidigungsausschuss, hält Rüstungsexporte für wichtig. Er findet es richtig, Algerien, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Und die Agenda 2010, die für soziale Kürzungen steht, hält er tatsächlich für zutiefst sozialdemokratisch.

Der junge SPD-Mann schwärmt von Gerhard Schröder

Wenn Ilgen über Politik spricht, scheint es, als wäre er seinen 33 Jahren vorausgeeilt. Leidenschaftlich schwärmt er vom Wahlkampf Kohl gegen Schröder. Gerhard Schröder war für Ilgen der Grund, mit 14 Jahren den Jusos beizutreten. "Schröder war ein klasse Typ, sportlich, fetzig, hat dem Volk aufs Maul geschaut." Nach dem Wahlsieg 1998 färbte Ilgen sich seine roten Haare zur Hälfte grün. Er lacht noch heute, wenn er die Anekdote erzählt. Und zeigt mir auf seinem Smartphone den SPD-Werbespot von damals. "Das war noch Qualität."
Und ich dachte, ich treffe hier einen der jungen Wilden, einen, der im Jahr 2017 für Aufbruchstimmung in der SPD sorgen kann.
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Ich hole Ilgen zurück in die Gegenwart. Wofür steht er denn eigentlich? Wenn er über seine politische Agenda spricht, fallen Schlagworte, die man von Schulz und der SPD kennt: Bildung solle kostenfrei werden, was sie ja aber größtenteils schon ist. Breitband ausbauen, dagegen wird wohl keiner was haben. Viel konkreter will Ilgen nicht werden. Er warte lieber, bis die SPD ihr Wahlprogramm formuliert hat.

Beim Wrestling ist er der Bösewicht

Wie würde er mich überzeugen, der SPD beizutreten? Um Inhalte geht es auch in dieser Antwort nicht so sehr, dafür klingt sie kämpferisch: "Du musst die Welt verbessern wollen. Fortschritt mögen. Auch Veränderung. Wer zufrieden ist und will, dass alles so bleibt, der geht zur Union." Sagt der Mann, der zufrieden ist mit Rüstungsexporten und der Agenda 2010.
Ilgen mag es, die politische Welt in zwei Lager zu unterteilen, er macht das häufiger an diesem Abend. Gut und Böse. Ilgen fasziniert dieser ewige Kampf. Die "Star Wars"-Filme gefallen ihm. Weil Regisseur George Lucas es auf geniale Art geschafft habe, diesen "mythologischen Grundpfeiler als roten Faden zu nehmen". Ilgen kennt dieses Spiel. Es ist wie Wrestling.
Wrestling ist ein amerikanischer Sport, kein richtiger Wettkampf, eher ein athletischer Schaukampf. Mit zwei Rollen: dem Bösen, genannt "the Heel", und dem Guten, "Babyface". In jedem Kampf treffen diese Extreme aufeinander. Sympath gegen Antipath. Jeder Wrestler entscheidet sich am Anfang seiner Karriere für eine Seite und erschafft einen Charakter. Ilgen hat sich für die böse Seite entschieden, er nennt sich im Ring "Freiherr von Ilgen". Er spielt einen überheblichen Adligen, mit wallendem Umhang und Wappen auf der Brust.
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Ilgen mag es, das Arschloch zu sein

Ilgen sagt, er liebe es, mal so richtig das Arschloch zu sein. Vom Publikum ausgebuht, manchmal angespuckt zu werden, mit Milchtüten beworfen, das sei geil. Er sagt, hier könne er seine dunkle Seite rauslassen. Denn im Bundestag sei er ja ein Sozialdemokrat, ein Guter. Das Babyface. Die Bösen, das sind dann die anderen.
Tim Bru00fcnning
Das Bierdeckel-Wahlprogramm entstand dieses Mal nicht im Suff, sondern ausgeruht am nu00e4chsten Morgen. Piltz hatte abends nicht daran gedacht Kasten
Vielleicht ist dieses Schwarz-Rot-Denken Ilgens Taktik. Er tritt im Herbst 2017 als Direktkandidat für seinen Wahlkreis Nordfriesland/ Dithmarschen-Nord an. Seine Kontrahentin ist von der CDU; sie liegt in den Umfragen bislang vorn. Ilgen muss kämpfen. Er setzt dabei auf gezielten Angriff und auf Show. Ilgen hat analysiert, in welchen Stadtteilen die Unentschlossenen wohnen. Hat ihre Straßenzüge auf Karten markiert. Dort geht er auf Haustürwahlkampf. 10.000 Haushalte will er besuchen. Ilgen schafft 100 Haustüren in zwei Stunden, auch das hat er ausgerechnet. Knapp eine Minute an jeder Haustür. Geht es dabei überhaupt um Inhalte? "Man muss präsent sein. Die Stamm- und Wechselwähler aktivieren." Es sind pragmatische Sätze. Sie klingen nach Marketing statt Moral. Aber sie klingen auch ehrlich.
Wir haben jetzt schon über zwei Stunden geredet, als der Kellner zu uns kommt. "Dimitri, habt ihr noch diesen perversen Eisbecher, drei Kugeln mit Sahne und Schokosoße? Bitte einmal, aber nur mit einer Kugel." "Nur eine? Warum halbe Sachen? Nimm drei." "Meinst du? Okay, bring her." Manchmal ist es so einfach, jemanden zu überreden. Ilgen weiß das.

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