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Ich habe für „Victoria's Secret“ gephotoshopped und so fake ist alles wirklich

Foto: Getty Images.
Wenn heutzutage vom Retuschieren gesprochen wird, denken wir meist an Flickarbeiten und den schädlichen Einfluss manipulierter Bilder auf die Kultur. In letzter Zeit kommt auch die Nennung diverser Marken und Publikationen hinzu, die sich angeblich gegen diese Art der Bildmanipulation wehren. Doch was Retuscheure wirklich tun, warum Retusche überhaupt existiert, was dabei gemacht wird, scheint niemand so genau zu wissen. Die kurze Antwort: Es ist kompliziert. Retusche ist eine Mischung aus standardisierten Bearbeitungstechniken, irrationalen Egos und einer Menge Horror. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die den Großteil ihres Arbeitslebens damit verbracht hat, für zahlreiche Marken und Unternehmen zu retuschieren – allen voran Victoria’s Secret, die unsere Anfrage zu diesem Thema leider abgelehnt haben. Tatsächlich ist sie noch immer für Victoria’s Secret tätig. Aus diesem und weiteren Gründen möchte sie anonym bleiben, weshalb wir sie im weiteren Verlauf des Textes „Sarah“ nennen. Sarah hat sich bereit erklärt, uns einen Einblick hinter die Kulissen zu gewähren. „Ich weiß, dass das, was ich bei Victoria’s Secret tue, falsch ist, deswegen arbeite ich dort auch nicht mehr Vollzeit“, sagt sie. Sie möchte uns klarmachen, wie unecht die Körper, die wir tagtäglich auf Postern sehen, tatsächlich sind, und zwar von Kopf bis Fuß. Gleichzeitig möchte sie uns aber auch verdeutlichen, welche Mitschuld wir an der Verbreitung solcher Bilder tragen: „Wir, als Gesellschaft, suchen uns das so aus.“ 1. Retusche gab es bereits, bevor Photoshop überhaupt entwickelt wurde.
Jedes Foto bedarf gewisser Nachbearbeitung. Dabei geht es nicht darum, ein falsches Bild zu kreieren, sondern darum, das Abgebildete in seiner deutlichsten Form darzustellen. Beispielsweise verliert Kleidung auf Bildern meist an Farbsättigung, weshalb oft nachbearbeitet werden muss, um die Sachen in ihrer eigentlichen Farbigkeit zu zeigen. Nachbearbeitung ist ein derart fester Bestandteil der Fotografie, dass eigentlich bei jedem, der in der Branche tätig ist, auch Kompetenzen im Retuschebereich vorausgesetzt werden. Sarah hat sich Photoshop selbst beigebracht, während sie Grafikdesign studierte.
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„Damit das Bild auch nach dem Druck farbecht und realitätsgetreu bleibt, muss man retuschieren“, sagt Sarah. „Darum geht es beim Retuschieren eigentlich.“ Doch irgendwann sei wohl jemandem aufgefallen, dass man damit auch den Hintergrund manipulieren kann, warum also nicht auch den Körper? „Und von da an geriet es außer Kontrolle.“ 2. „Änderungen“ am Körper werden bereits am Set vorgenommen.
Während ihrer Zeit bei Victoria’s Secret war Sarah oft direkt am Set tätig und bekam mit, wie Änderungsmaßnahmen und improvisierte Spezialeffekte angewandt werden, bevor das Bild überhaupt in der Bearbeitung landet. „Das Erste, was zum Einsatz kommt, sind Extensions“, sagt sie. „Ich glaube, ich war noch nie auf einem Shooting, bei dem die Models keine Haarverlängerung bekommen haben.“ Als nächstes kommen die „Hähnchenbrüste“ und andere Formpads, die Brustgrößen und Körperformen an das anpassen, was gerade gefragt ist. „Wenn man am Set einen Badeanzug in die Hand nimmt, kommt es einem vor, als wöge er mehrere Kilo, weil dieses ganze Zeug schon eingenäht ist.“ Das Absurdeste – und Offensichtlichste – an der ganzen Angelegenheit ist der zusätzliche BH. „Oft ist ein Push-Up-BH in den Badeanzug eingelassen, der anschließend weg retuschiert wird, und zwar auch bei den trägerlosen Teilen. Darüber beschweren sich dann viele Kunden. In einem trägerlosen Bikini hat natürlich niemand ein so aufrechtes, üppiges Decolleté, egal, wie groß oder klein die Brüste sind, egal, welche Form sie haben. Das ist durch die Schwerkraft einfach nicht möglich.“ Victoria’s Secret sei aber nicht das einzige Modeunternehmen, das diesen Trick anwendet, erklärt Sarah, der Vorgang sei Routine. Deswegen sehen wir überall nur noch Antischwerkraft-Brüste. Es ist auch der Grund, warum Bademode an echten Körpern nie so aussieht, wie an den Körpern der Models – weil es kaum noch echte Körper sind.
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Foto: Getty Images.
3. Kein Körperteil sieht aus, wie es aussieht.
Als nächstes kommt die digitale Modifizierung: Der BH kommt raus, die Nippel werden ausradiert. Oft wird Sarah gebeten, Brüste runder, höher, symmetrischer zu machen, und natürlich auch größer. „Eigentlich haben sie fast ausnahmslos A-Körbchen“, sagt Sarah. Aber die Brüste sind nur ein Teil des Ganzen. Es werden endlose Korrekturen vorgenommen, so subtil, dass wir sie als Betrachter kaum bemerken. Wir würden nicht einmal glauben, dass sie einer Bearbeitung bedürfen. Das läge ganz einfach daran, dass der Körper sich verformt, wenn er sich bewegt. „Hände und Füße sehen auf Bildern immer blau aus“, sagt Sarah. Achseln würden immer gräulich wirken, wobei es vollkommen egal ist, wie gründlich sie enthaart sind oder nicht. Sarah sagt, man sähe immer einen Schatten. Viele Models kämen ans Set und seien nicht einmal rasiert: „Sie kommen zu den Shootings und halten ihre Arme in einer klassischen Strandpose und dann sieht man, dass sie haarige Achseln haben. Sie haben alle leichte Stoppeln um den Schambereich.“ Der ganz normale Kram halt, den Nicht-Models auch haben. Natürlich wäre es die beste „Änderungsmaßnahme“, wenn man die Stoppeln sichtbar ließe, damit wir uns an ihren Anblick gewöhnen. Sarah ist derselben Meinung, weist aber daraufhin, dass wir so sehr auf den stoppelfreien Standard getrimmt sind, dass wir „im Kollektiv gar nicht erst über die Option nachdenken.“ Eine weitere Standardmaßnahme ist, „mehr Fleisch auf die Knochen“ zu zaubern. Man würde vermuten, dass Retuscheure eigentlich jeden dünner machen wollen, doch „Models sind oft dünner, als man annimmt, und wir retuschieren sie, damit sie runder aussehen.“ Sarah ist hochroutiniert darin, Pos aufzustocken, herausstechende Rippen zu verstecken und scharfe Hüftknochen weich zu zeichnen. Sie sagt: „Wir legen Kurven über Kanten.“ 4. Warum also nicht einfach „kurvige“ Models anstellen?
Weil sie nicht verkaufen. Und das ist der Punkt, an dem das Geschäft der digitalen Verschönerung hässlich wird. Während ihrer Zeit bei Victoria’s Secret, erzählt Sarah, „haben sie alle möglichen Models und alle möglichen Körperformen ausprobiert.“ Verbraucher haben einfach nicht reagiert. „Einmal wurden zwei Mädchen für eine Bademodenkampagne engagiert. Sie hatten definierte Bauchmuskeln, kräftige Oberschenkel und volle Brüste. Ihre Körper waren durch und durch straff, und ihre Haut war unfassbar schön. Sie waren ganz offensichtlich Models, hatten aber einfach einen anderen Look. Diese Kampagne hat quasi nichts verkauft, also haben sie die beiden kein zweites Mal engagiert.“ Das meint Sarah, wenn sie sagt, dass „wir uns das aussuchen“ – wenn Käufer positiv auf unkonventionelle Models reagieren würden, würden Marken mehr dieser Bilder zeigen. 5. Am Ende geht’s nur ums Geld.
„Weil Unternehmen wie Victoria’s Secret letztlich Geschichten und Träume verkaufen, gibt es Leute, die die Realität retuschieren“, sagt Sarah. Modemarken, Magazine und Kosmetikprodukte sind Händler von Utopien, also ändern sie beim Retuschieren alles, vom Kopf über die Taille bis zu den Füßen. Zwar wissen wir alle, dass jeder Mensch Schambehaarung hat, aber „wenn die Menschen ein Bild sehen würden, auf dem Stoppeln im Intimbereich zu sehen sind, würden sie das Produkt, das damit beworben wird, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht kaufen.“ Wir sind sehr spezifische Körpertypen gewöhnt, die durch digitale Modifizierungen noch homogener gestaltet werden. Wenn uns dann etwas gezeigt wird, das dem gewohnten Bild nicht entspricht, fällt es uns auf. Wenn es ums Kaufverhalten geht, bedeutet das in der Regel nichts Gutes. Selbst Leute, die gesellschaftliche Schönheitsstandards beklagen, fühlen sich meist von ihnen angezogen.
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6. Die Ausnahme: American Eagles Aerie.
Aerie ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Mit der Ansage, sie würden künftig eine größere Bandbreiten von Modelten engagieren und ihre Fotos komplett unretuschiert lassen, ging die Marke 2014 mit der Kampagne „Aerie Real“ an die Öffentlichkeit. Das Unternehmen nannte das Ganze „eine Bewegung“ und war damit überraschend erfolgreich. Also investierte es weiter in die Entwicklung dieses Zweigs. Obwohl der Erfolg der Kampagne definitiv bemerkenswert ist, klärt Sarah auf, dass es dabei nicht um menschliche Güte gehe. „Sie wollten sehen, ob es ankommt oder nicht“, sagt sie. „Das Unternehmen hat die Kampagne nicht aus Überzeugung gestartet, oder gar, weil es ein Statement damit machen wollte. Aerie machte das nicht, damit sich jemand wohlfühlt. Aerie wollte einfach sehen, ob sich die Produkte damit gut verkaufen würden. Weil sie das taten, machen sie weiter.“ Anders als Victoria’s Secret, die klammheimlich unterschiedliche Körper testen, hat sich Aerie mit dieser Kampagne das positives Körperbild zum Markenethos gemacht. Es war ein Risiko, das sich ausgezahlt hat. Mittlerweile führt das Subunternehmen der American Eagle Outfitters Gruppe die „Anti-Retusche-Bewegung“ sichtbar an. „Nicht zu retuschieren ist mittlerweile mehr als nur eine Kampagne für uns“, so Jen Foyle, Global Brand President der Marke. „Es ist zum gedanklichen Gerüst geworden, das hinter allem steht, was wir tun. Es ist die Nachricht, die wir vermitteln wollen.“ Doch tatsächlich ist der Erfolg auch ein Verdienst von uns Verbrauchern. Denn der Erfolg einer solchen Kampagne steht und fällt mit der Nachfrage. „Wenn man so etwas entdeckt, sollte man seine Unterstützung dadurch ausdrücken, dass man kauft, denn nur so erkennen die Unternehmen, dass das Marketing bei den Kunden Erfolg ankommt“, sagt Sarah. „Vielleicht ziehen dann auch andere Marken nach, weil sie sehen, wie gut es für Aerie läuft.“
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Foto: Getty Images.
7. Es liegt nicht an einem einzigen Industriezweig. Es liegt an allen.
Es wäre so einfach, die Schuld auf die großen Modemarken zu schieben, aber Sarah verweist auf all die anderen Bereiche, in denen Fotomanipulation Routine geworden ist. Instagram, zum Beispiel. „Nur zur Erinnerung: #Fitspo ist ein frei erfundenes Phänomen, das es gar nicht gibt“, sagt Sarah. Selbst, wenn die Bilder nicht retuschiert sein sollten (was sie aber meistens sind), kommt mit großer Wahrscheinlichkeit die Belichtungstechnik eines professionellen Shootings zur Anwendung. „Sobald man Licht und Kameraeinstellung manipuliert, ist es Retusche, denn man stellt etwas anders dar, als es eigentlich ist.“ Und genauso, wie dünne Models praller gemacht werden, werden Plus-Size-Models verschlankt und geglättet. „Alles, um sie zarter wirken zu lassen“, sagt Sarah, und meint damit nicht nur die schmale Taille. Auch Gelenke und Knöchel werden manipuliert. „Vor allem der Bereich um den Hals und die Schultern wird bearbeitet, denn eine schmale Brust-Schultern-Partie wirkt sehr feminin.“ Noch schlimmer ist, dass selbst Kindermodels einer digitalen Generalüberholung unterzogen werden. „Ich mache aber nichts mit kleinen Kindern, weil das echt schnell echt komisch wird“, sagt sie. „Man bekommt dann Aufträge wie: ,Kannst du diese Neunjährige weniger müde machen?‘“
Natürlich wäre es sinnvoller, das Kind einfach ausschlafen zu lassen. 8. Manchmal bedeutet „ändern“ auch „tauschen“.
Wenn die Möglichkeiten von Photoshop an ihre Grenzen gelangen, werden Körperteile eben ausgetauscht. Im Februar prangerte Lena Dunham das spanische Magazin „Tentaciones“ dafür an, dass sie Dunhams Coverfoto so umfangreich retuschiert hätten, dass Dunham ihren Körper kaum mehr wiedererkenne. „Es ist echt befremdlich, ein Foto von dir zu sehen und nicht mehr sagen zu können, ob das wirklich dein Körper ist oder nicht“, erklärte Dunham in einem Statement. „Viele Körper werden ganz oder in Teilen ausgetauscht“, sagt Sarah. „Zum Beispiel müssen oft Arme ausgewechselt werden, weil das Model sie auf dem eigentlich idealen Bild derart seltsam hält, als würde sie sich an ihrem Hintern rumfummeln. So in der Art sehen die Aufträge dann aus.“ Oft würden einfach nur komische Haltungen korrigiert. 9. Manche Dinge ändern sich – und manche Dinge ändern sich nie.
Sarah arbeitet mittlerweile Vollzeit in einer anderen Abteilung. Obwohl sie auf freiberuflicher Basis noch immer den ein oder anderen Retuschejob annimmt, selektiert sie die Aufträge und überlegt, ob sie zu den jeweiligen Jobs bereit ist. „Ich verkleinere keine Taillen mehr“, sagt sie. Sie sei schockiert vom Trend des Corsagentrainings à la Kim Kardashian und lehnt es ab, die Vorstellung voranzutreiben, alle Frauen müssten eine extreme Sanduhrfigur haben. Noch etwas, das sie sich weigert zu tun? Das Aufhellen von Zähnen und Augapfel. „Niemand hat strahlend weiße Augen, aber jedes Unternehmen möchte es, weil es Models auf den Bildern noch mehr zum Strahlen bringt. Dabei sieht es einfach nur verrückt aus.“ Es gibt weiterhin einige Standardpraktiken, die sie in absehbarer Zukunft nicht für entbehrlich hält. Genauso, wie es quasi kein Model ohne Aknenarben, Cellulite oder Dehnungsstreifen gibt: „Nur zur Info: Man wird während der Pubertät nicht mit einem Mal 1,84m groß, ohne hinterher einen einzigen Dehnungsstreifen am Körper zu haben.“ Jeder Retuscheur weiß, wie man sie beseitigt. Sarah lobt Marken wie Aerie für den Mut zu unretuschierten Kampagnen und betont, dass Cellulite in der Werbung sie keineswegs abturnen würde, dass sie aber auch nicht die durchschnittliche Kundin sei. Sollte die Entfernung von Cellulite jemals vom Retuschemarkt verschwinden, „dann wird es auf jeden Fall noch eine ganze Weile dauern, bis es so weit ist.“
Vorerst gibt Sarah sich damit zufrieden, weiterhin Aknenarben und Stoppel auszuradieren, ist aber gerne bereit, jedem, der gewillt ist zuzuhören, die Wahrheit zu erzählen. Sie bekommt mittlerweile weniger Anfragen für dramatische Retuschearbeiten als früher und „die ganze Busen-Sache ist irgendwie auch vorbei.“ Etwas anheben oder straffen soll sie zwar weiterhin, aber „das ist nicht ganz so dramatisch. Es ist nicht das Schlimmste. Ich kopiere und füge keine komplett fremden Brüste mehr in Bilder ein. Zumindest das nicht. Alles andere nehm’ ich.“ Während Sarah froh darüber ist, einen leichten Widerstand in ihrer Branche zu sehen, ist sie sich bewusst, dass die größte Herausforderung noch bevorsteht: Den Blick der Verbraucher ändern, also auch ihren eigenen. „Ich hatte mir für diesen Sommer einen Badeanzug von Victoria’s Secret bestellt, und als er ankam, war ich enttäuscht, weil er längst nicht so toll aussah, wie in der Werbung. Ich bin diejenige, die das alles bearbeitet, und ich bin selbst noch nicht immun gegen dieses Marketing. Es ist unglaublich.“

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