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Warum ich Hoffnung für Berlin habe, nachdem ich den Anschlag in Nizza miterlebte

Gestern Abend ist gegen 20:15 Uhr ein Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche gerast. Die tragische Bilanz heute morgen: 12 Menschen sind tot, 48 Personen verletzt. Während der mutmaßliche Fahrer des Sattelschleppers zunächst geflohen ist, wurde der Beifahrer tot aufgefunden. Kurz darauf folgten Berichte über eine Festnahme. Heute morgen ist klar: Der Täter handelte vorsätzlich. Der festgenommene Mann war der Polizei Berichten des Tagesspiegels zufolge als Kleinkrimineller bekannt. Der vor Ort tot aufgefundene Beifahrer scheint der Cousin des Autovermieters zu sein. Als ich zu Hause im Berliner Stadtteil Neukölln, weit weg also vom Breitscheidtplatz, von dem Vorfall erfahre, werden bei mir sofort Erinnerungen wach. Erinnerungen an den Sommer 2016. Genauer gesagt an den 14. Juli. An den Tag, an dem ich mit 30.000 anderen Menschen den französischen Nationalfeiertag an der Promenade des Anglais in Nizza feierte. Im Rahmen meines Studiums habe ich insgesamt zehn Monate in Frankreich verbracht, acht davon in Nizza. Der Grund, warum ich an diesem Abend direkt nach dem Feuerwerk nach Hause ging, war meine Masterarbeit. Für den nächsten Morgen hatte ich einen Interviewtermin vereinbart.
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Wie bereits vor einem halben Jahr kann ich antworten, dass es mir gut geht.

Wie vor einem knappen halben Jahr in Frankreich raste auch gestern ein LKW in eine fröhlich feiernde Menschenmenge. Wieder gab es zahlreiche Tote und Verletzte. Und wieder dauerte es nicht lange, bis mich Freunde und Familie anriefen oder Nachrichten sendeten, um zu erfahren, ob bei mir alles in Ordnung sei. Wie bereits vor einem halben Jahr kann ich antworten, dass es mir gut geht. Parallelen zu Nizza zu ziehen, liegt aber nicht nur für mich persönlich auf der Hand. Denn wenn nach dem Anschlag im Sommer, als an der französischen Côte d’Azur 86 Menschen von einem LKW überrollt wurden, hier in Berlin ein Sattelschlepper in eine Menschenmenge rast, fällt es vielen schwer, keine Ähnlichkeiten darin zu sehen… Am Morgen nach dem Terroranschlag in Nizza wachte ich nach wenigen Stunden Schlaf auf – wegen des Schocks und weil Handy und Facebook nicht still standen. Natürlich wollte ich allen sofort antworten, sodass nicht einmal der Funke eines Verdachtes aufkommt, mir könnte etwas zugestoßen sein. Damals war ich dankbar für die Safety Check-Funktion von Facebook. Vier Monate später, zurück in Berlin, sprechen mich Bekannte noch immer darauf an. Auch gestern aktiviert Facebook die Funktion unter dem Titel Anschlag in Berlin auch für den Breitscheidplatz extrem schnell – noch bevor die Polizei den Verdacht eines Unfalls ausgeräumt hat. Später wurde sie in Vorfall am Weihnachtsmarkt in Berlin umbenannt. Viele Leute sprechen mich im Laufe des Abends darauf an, dass sie froh und erleichtert sind, mich als sicher markiert zu sehen. Heute Morgen hat mir ein Freund geschrieben, dass ich mich ja bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr als sicher markieren konnte – und er hoffe, dass alles okay ist.

Natürlich wollte ich allen sofort antworten, sodass nicht einmal der Funke eines Verdachtes aufkommt, mir könnte etwas zugestoßen sein. Damals war ich dankbar für die „Safety Check“-Funktion von Facebook.

Als ich am Morgen nach dem Terroranschlag in Nizza aufwachte, schien die Sonne vom strahlend blauen Himmel. Ganz so, als wäre nichts passiert. Ich hätte mir damals die graue Wolkendecke des heutigen Berliner Morgens gewünscht. Besonders wichtig war es für mich und meine französischen Freunde damals, an einem solchen Tag nicht alleine zu bleiben. Gemeinschaft und Solidarität hatten Priorität. Die Alarmglocken schrillten gestern besonders laut, weil auch in Berlin ein sogenanntes „weiches“ Ziel getroffen wurde. Die Bezeichnung stammt aus der militärischen Fachsprache. Unter „weichen“ Zielen werden auch in der Terrorismusbekämpfung ungeschützte oder unter normalen Umständen nicht zu schützende Ziele verstanden. Also Orte des öffentlichen Lebens, an denen viele Menschen unterwegs sind. Orte wie das Volksfest an der Promenade oder der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Weihnachtsmarkt. Das steht eigentlich für Glühwein und Zuckerwatte, für Gemütlichkeit, Kitsch und „All I Want for Christmas“ in Endlosschleife. Weihnachtsmärkte sind ein Symbol für gemütliches Beisammensein in der Vorweihnachtszeit. Ob alt, ob jung, ob Berliner oder Tourist, Familie oder Freunde – auf dem Weihnachtsmarkt trifft man bei einem Glas Glühwein oder Punsch die unterschiedlichsten Menschen. Am Morgen des 20. Dezembers bedeutet Weihnachtsmarkt plötzlich: zwölf Tote und 48 Verletzte. Soweit die offiziell bestätigten Angaben der Berliner Polizei. Während meines gesamten Aufenthaltes galten in Frankreich Ausnahmeregelungen. Etat d’urgence, das bedeutet im Alltag Soldaten in Dreierteams und mit Maschinengewehren auf der Straße und am Bahnhof patrouillieren zu sehen, vor dem Eintritt ins Museum oder Theater immer die Tasche aufzumachen und durchsuchen zu lassen. Weitere staatliche Befugnisse gehen über solche Kleinigkeiten hinaus. Auch in Berlin melden sich Stimmen, die Weihnachtsmärkte hätten als „weiche“ Ziele noch besser geschützt werden müssen. „War ja klar, dass sie uns nicht in Ruhe Weihnachten feiern lassen würden“, schreibt mir eine französische Freundin gestern Abend. Ich versuche, ruhig zu bleiben, denn die Möglichkeit eines tragischen Unfalls war zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgeschloßen. Doch auch für den ehemaligen Bürgermeister Nizzas, Christian Estrosi, scheint die Sache schon klar zu sein: „Horror in Berlin. Unterstützung für den Berliner Bürgermeister und das deutsche Volk. Nie wieder das“, twitterte der konservative Politiker am Abend. Die Berliner Polizei zeigt sich im Verlauf des Abends zurückhaltender. Vor allem aber ruft sie die Menschen dazu auf, keine Videos vom Tatort und vor allem: keine Gerüchte zu verbreiten. Es ist der Versuch, die Hoheitsgewalt über die Informationen zu behalten. Und selbst wenn dementsprechend nur sehr wenige Informationen durchkommen, bin ich für diese Strenge dankbar. Auch in Nizza wurde am Abend immer wieder wird betont, dass noch nicht klar sei, ob es sich um einen Unfall oder einen Anschlag handelt. Später in der Nacht meldet sich auch der aktuelle Bürgermeister der südfranzösischen Stadt, Philippe Pradal, mit den folgenden Worten: „Gleiche Vorgehensweise. Gleiche blinde Gewalt. Gleicher Hass auf glückliche Menschen“. Ich erinnere mich daran, wie ich in der Nacht jenes 14. Juli in meinem Zimmer in Nizza gebannt auf den Bildschirm meines Laptops starrte und auf verschiedenen Nachrichtenseiten immer wieder „Aktualisieren“ klickte, geradezu verzweifelt auf der Suche nach frischen Informationen. Auch damals war man zunächst von einem Unfall mit 12 Toten ausgegangen. Als kurze Zeit später klar wurde, dass es sich um einen terroristischen Anschlag handelte, berichteten die französischen Medien prompt auch über eine Geiselnahme in einem Hotel an der Promenade – die sich kurze Zeit später als großer Quatsch herausstellte. Im Gegensatz zur Situation nach dem Amoklauf in München, wo im Sommer dieses Jahres ebenfalls schnell von mehreren Tatorten die Rede war und die Menschen in Panik gerieten, versuchen Polizei und Medien Spekulationen in Berlin nach Möglichkeit zu vermeiden. Heute morgen ist aus dem Verdacht eines vorsätzlichen Handelns trotz der anfangs vorsichtigen Berichterstattung traurige Gewissheit geworden. Der Schock sitzt tief. Wenn ich allerdings eines von meiner Erfahrung in Frankreich gelernt habe, ist es, dass es nicht in Frage kommt, sich von solch schrecklichen Ereignissen unterkriegen zu lassen. Dass wir weiter rausgehen sollten, stark bleiben und dass die Angst nicht unsere Herzen regieren darf. Ich habe gelernt, dass in Tagen wie diesen Solidarität und Gemeinschaft Halt geben. Nach solch tragischen Ereignissen müssen wir zusammenhalten, das habe ich in Nizza gelernt. Und dass für Hass und Angst kein Platz sein darf. Dass der Generalverdacht gegen ethnische oder religiöse Gruppen ebenso sinnlos wie fehlgeleitet ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es wird nicht leicht. Aber Nichts ist wichtiger, weil die Attentäter sonst ihr Ziel erreicht haben: Eine Gesellschaft in Angst. Das Mantra dieser Tage muss lauten: Keine Angst. Kein Hass. An diesem Tag sind wir in Gedanken bei den Toten, Verletzten und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser tiefes Mitgefühl.

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