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Machen wir alle gerade eine Existenzkrise durch? Ja? Sehr gut.

Foto: Jordan Tiberio
Kurz vor Jahreswechsel wurde ich 2022 gegenüber immer skeptischer. Das lag nicht nur an der Omikron-Variante und der Tatsache, dass plötzlich scheinbar alle Menschen positiv auf COVID-19 getestet wurden (obwohl glücklicherweise viele nicht schwer erkrankten, weil sie geimpft waren). Es hatte auch den Anschein, dass es uns allen schlecht ging, oder keine:r von uns mehr wirklich weiter wusste – weshalb es kein Zufall ist, dass wir den Namen unseres Gruppenchats kurz vor Weihnachten in „clueless“ (zu Deutsch: ratlos) umänderten.
Nachdem ich den großen Fehler gemacht hatte, mir den Film Don't Look Up anzusehen, der mich daran erinnerte, dass die Welt voller korrupter Menschen ist, scherzte ich mit Freund:innen darüber, dass 2022 das Jahr sein könnte, in dem ich tatsächlich eine existenzielle Krise haben würde. „Spaß!“, sagte ich. „Na ja, zum Teil.“
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Meine Sorgen hätten natürlich viel schlimmer sein können. Ich war in Sicherheit und hatte eine Beschäftigung. Aber meine Furcht hörte nicht auf, zu wachsen, und ich hatte das Gefühl, dass alles in einem Augenblick verschwinden könnte. Und wenn das der Fall wäre, was würde mir dann bleiben? Meine Gedanken kreisten um meine Arbeit und meine Beziehungen: Hatte ich genug erreicht? Sollte ich meine Plattform als Schriftstellerin nutzen, um mehr zu erreichen? Sehe ich die Menschen, die mir wichtig sind, oft genug? War es meine Aufgabe, Aufmerksamkeit auf Ungerechtigkeiten lenken, wie ich dachte? War ich überhaupt in der Lage, das zu tun? Oder vergeudete ich meine Zeit damit, über meinem Laptop zu kauern? Sollte ich meine Zeit auf diesem unbeständigen Planeten nutzen, um meine Freundschaften zu pflegen, mir das Lachen meiner Eltern einzuprägen und den besten Cupcake-Laden in meiner Stadt zu finden? Was, wenn ich eines Tages in zehn Jahren aufwache und total unglücklich bin?
Als ich meinen Freund:innen von dieser Gedankenspirale erzählte, merkte ich, dass es vielen von ihnen ähnlich ging. Wir alle schienen gerade in einer ähnlichen Situation zu sein und stellten unsere Existenz, unsere beruflichen Entscheidungen und Beziehungen infrage.
Der holprige Start ins Jahr 2022 war nicht allein schuld an diesem Stimmungstief. Viele Ereignisse in den letzten Jahren – die Pandemie, wiederholte Fälle rassistisch motivierter Polizeigewalt, Aufstände, Naturkatastrophen im Zusammenhang mit dem Klimawandel – haben viele von uns dazu veranlasst, über ihre Sterblichkeit und ihre Weltanschauung nachzudenken. Diese Faktoren haben uns auch dazu bewegt, darüber zu reflektieren, ob wir mit der Eintönigkeit unseres täglichen Lebens wirklich zufrieden sind, sagt Dr. Steven Meyers, klinischer Psychologe und Professor an der Roosevelt University in Chicago. Dieses Unbehagen, mit dem viele von uns gerade ringen, in Kombination mit diesen „schwerwiegenden“ Fragen, die wir uns stellen („Was ist der Sinn meines Lebens?“ oder „Wie bin ich zu diesem Punkt gekommen?“), zeichnen eine Existenzkrise aus.
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Das ist ein heftiges Wort und Existenzangst ist kein schönes Gefühl. Sie veranlasst dich dazu, dich mit unsicheren Szenarien in der Zukunft zu beschäftigen. Außerdem kann sie dich hoffnungslos stimmen, wenn es um den Sinn des Lebens geht. Existenzielle Ängste unterscheiden sich von klinischen Ängsten oder Depressionen. Sie können aber trotzdem dazu führen, dass wir uns ängstlich und einsam fühlen und unglücklich sind.
Laut Dr. Meyers machen Menschen existenzielle Krisen oft nach einem wichtigen Lebensereignis durch, wie einem Todesfall in der Familie, einer beängstigenden Gesundheitsdiagnose, einer Scheidung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes. Und das sind Dinge, mit denen Millionen von Menschen als direkte Folge der unterschiedlichen Traumata, die wir während der Pandemie kollektiv und individuell erlebt haben, zu kämpfen haben, sagt Dr. Alfiee Breland-Noble, Psychologin und Gründerin des AAKOMA-Projekts, einer gemeinnützigen Einrichtung für psychische Gesundheit. „Hinzu kommt, dass all diese schlimmen Ereignisse ununterbrochen passiert sind und schon sehr lange andauern“, erklärt sie. „Wir hatten erwartet, dass das alles inzwischen vorbei sein würde, aber das ist nicht der Fall.“
Seit 2020 schwebt die ständige Bedrohung, krank zu werden oder unsere Lebensgrundlage zu verlieren, wie eine Regenwolke über uns. Die Lücken und schädlichen Ungleichheiten in sozialen Systemen machen sich jetzt besonders bemerkbar. Nun hat das Jahr 2022 mit einem rasanten Anstieg neuer COVID-19-Fälle in Deutschland begonnen. Es ist also keine Überraschung, dass wir uns im Moment auf die düsteren Fragen des Lebens konzentrieren und einen Existenzangst-Winter durchleben.
Es war zwar beruhigend zu wissen, dass ich nicht allein mit diesen Gefühlen bin, aber ich hoffte auch, dass es einen Weg geben würde, meine Ängste in den Griff zu bekommen. Zu diesem Zweck schlug Dr. Breland-Noble vor, Interventionstechniken anzuwenden. Durch diese lassen sich Wege finden, die Gedanken, die in deinem Kopf kreisen, zu stoppen, bevor ein Schneeballeffekt entstehen kann. Denn ein Schneeball wird umso größer, je länger du ihn bergab rollen lässt, erklärt sie. „Wenn du ihn an der Spitze oder am oberen Drittel des Hügels bremst, hast du eine bessere Chance, ihn aufzuhalten und ihn sogar zu verkleinern“, sagt sie.
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Auch wenn du diese unangenehmen Gedanken und Gefühle instinktiv verdrängen möchtest, schlägt Dr. Breland-Noble vor, sie zuzulassen. Du kannst dir sogar einen täglichen Reminder setzen oder eine App wie Breethe (mit der Dr. Breland-Noble bereits gearbeitet hat und die sie selbst nutzt) verwenden, um dich daran zu erinnern, dich mit deinen Gefühlen auseinanderzusetzen. „Je mehr du dir die Gelegenheit gibst, jeden Tag eine Bilanz deiner Gefühle zu ziehen, desto besser wirst du auf diese achten und sie steuern können“, erklärt Dr. Breland-Noble. „Ich sehe Emotionen als Wegweiser. Deshalb sollten wir uns während einer Existenzkrise an ihnen orientieren und sie nutzen, um voranzukommen.“ Sie fügt hinzu, dass Vorbeugung bei der Bewältigung psychischer Herausforderungen wirksamer ist als Intervention. Halte dich also auch an guten oder einfacheren Tagen an diese Strategien.
Ein Tagebuch zu führen, kann dir dabei helfen, deine Gefühle zu verstehen, sagt Dr. Meyers. „Beunruhigende Gedanken können wie ein Tennisball in einem Trockner sein“, sagt er. „Sie prallen immer wieder an den Wänden der Maschine ab.“ In anderen Worten: Wir denken normalerweise nicht linear, aber das Aufschreiben von Dingen kann hilfreich dabei sein, zu klären, was wir wollen, wer wir sind und was der Sinn unseres Lebens sein könnte.
Dr. Meyers fügt hinzu, dass existenzielle Krisen nicht immer völlig negativ zu betrachten sind. Sie sind zwar schwierig und kräftezehrend, aber sie gehen in der Regel auch Wachstum voraus. Das tun sie, indem sie uns zwingen, zu prüfen, in welche Richtung sich unser Leben entwickelt, und uns zu fragen, ob wir etwas daran ändern wollen.
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Niemand ist dazu verpflichtet, eine Existenzkrise in einen produktiven Moment zu verwandeln. Aber wenn du es für hilfreich hältst, schlägt Dr. Meyers vor, dich zu fragen, ob es kleine, zielgerichtete Aktionen gibt, die dir dabei helfen könnten, dich motivierter zu fühlen und deine Gefühle in den Griff zu kriegen. Wenn du zum Beispiel viel Zeit damit verbringst, über deinen Job nachzudenken, kannst du damit anfangen, ein Finanzpolster aufzubauen, das es dir ermöglicht, bei Bedarf eine Auszeit zu nehmen. Du kannst dich auch für einen Kurs anmelden, in dem du neue Fähigkeiten erwerben kannst, ein Networking-Treffen mit jemandem vereinbaren, dessen:deren Werdegang du bewunderst, oder einfach deine Einstellungen auf LinkedIn umändern, sodass andere wissen, dass du aktiv nach einem neuen Job suchst.
Professionelle Hilfe, wie z. B. eine Therapie, kann ebenfalls nützlich sein – für jede:n, zu jeder Zeit, aber besonders dann, wenn du mit den großen Fragen des Lebens ringst, und besonders dann, wenn du das Gefühl hast, dass deine tägliche Routine durch das, was du gerade durchmachst, gestört wird. Eine Therapie eignet sich auch dann, wenn du zwar positive Veränderungen in deinem Leben vorgenommen hast, dich aber immer noch nicht besser fühlst.
„Unterstützung bei psychischen Problemen gibt es in vielen Formen und Größen, und in der Regel gibt es ein gewisses Maß an professioneller Intervention, die gut zu der jeweiligen Person passt“, sagt Dr. Meyers. „Manche Therapeut:innen konzentrieren sich auf Handlungen, manche auf Gefühle, manche auf aktuelle Probleme, manche auf vergangene, manche sind passiv, manche aktiv – wichtig ist, dass du jemanden findest, mit dem:der du dich wohlfühlen kannst und der:die dich versteht. Wenn das nicht der Fall ist, ist es absolut in Ordnung, nach einer anderen Option Ausschau zu halten.“
Unterm Strich ist es verständlich, wenn du dich im Moment festgefahren fühlst und verwirrt bist, vor allem, weil viele der Faktoren, die zu unserer Existenzangst beitragen, sich weitestgehend unserer Kontrolle entziehen. Daher schlägt Dr. Breland-Noble vor, sich im Jahr 2022 auf das zu konzentrieren, was du kontrollieren kannst. Überleg dir, ob es nicht vielleicht gut wäre, dir die Nachrichten seltener anzusehen, versuche, deine Freizeit mit Aktivitäten, die dir guttun, wie Spaziergängen zu verbringen, und sprich mit deinen Freund:innen oder deiner Familie. Oder gönne dir einfach einen leckeren Muffin. Und unabhängig davon, wie du mit diesem Existenzangst-Winter zurechtkommst, denk daran: Einmal überm Berg könnte etwas Besseres und Sinnvolleres auf dich warten.
Wenn du selbst nicht mehr weiter weißt oder jemanden kennst, dem:der es schlecht geht, hol dir bitte Hilfe: Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr zu erreichen. Die kostenfreien Nummern lauten 0800/111 0111 und 0800/111 0222. Hierfindest du außerdem Therapeut:innen in deiner Nähe.

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