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Warum der Journalismus mehr Menschen mit Behinderung braucht

Foto: Andi Weiland
Mehr Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion in unserer Gesellschaft – diese Themen haben in Anbetracht aktueller Debatten in Magazinen, Zeitungen und anderen Publikationen derzeit Hochkonjunktur. Doch wie sieht es eigentlich in den Redaktionen und in der Berichterstattung selbst aus? Wie divers und inklusiv sind die Medien hierzulande? Werden wir dem gesellschaftlichen Anspruch, den wir an andere stellen, auch selbst gerecht? Beim ersten Female Future Force Day haben wir mit drei Frauen – sie sind Aktivistinnen, Autorinnen und Journalistinnen – darüber gesprochen, welche Erfahrungen sie persönlich in ihrer (Zusammen)Arbeit in und mit den Medien gemacht haben, wo es noch Probleme gibt und wie wir diese zukünftig lösen können.
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Den Anfang macht heute Laura Gehlhaar, die in Berlin lebt und arbeitet. Laura hat seit ihrer Kindheit eine Muskelerkrankung und sitzt seit ihrem 22. Lebensjahr im Rollstuhl.
Refinery29: Laura, du bist Sozialpädagogin, Autorin und Coach. Wie ist es zu dieser beruflichen Kombination gekommen?
Laura Gehlhaar: Ich habe in Holland Sozialpädagogik und Psychologie studiert und dort auch beides abgeschlossen. Danach habe ich vier Jahre in einer Psychiatrie gearbeitet, wollte dann aber noch einmal etwas Neues wagen und habe mich kurzerhand als Texterin in einer Agentur beworben. Die haben mich dann tatsächlich genommen. Und so bin ich dann dem Schreiben auf professioneller Ebene näher gekommen. Nach einem Jahr Werbeagentur hatte ich keine Lust mehr darauf und habe eine systemische Coaching-Ausbildung gemacht. Das hat sich irgendwie durch Mundpropaganda rumgesprochen. Seither arbeite ich nun als Coach, seit 2015 auch auf komplett selbstständiger Basis. Im Laufe dieser Zeit habe ich mich intensiv mit dem Thema Inklusion beschäftigt und halte heute Vorträge über Inklusion, Barrierefreiheit und Feminismus.
Du bietest ja auch im Rahmen der Female Future Force ein Coaching an. Was genau machst du dort?
Es geht hauptsächlich darum, wie man sein Unternehmen barrierefreier gestalten kann. Aber ich spreche auch generell darüber, wo Inklusion anfängt und aufhört. Meine Intention ist ganz klar: Barrieren abbauen.
Inklusion: Wofür steht dieser Begriff für dich und was beinhaltet er deiner Meinung nach?
Viele Menschen begreifen Inklusion als großes, ganzheitliches Ziel. Die Welt inklusiv für jeden Menschen dieser Gesellschaft zu gestalten, ist aber utopisch. Vielmehr begreife ich Inklusion als die Annahme und Akzeptanz menschlicher Vielfalt. Das beinhaltet das Merkmal ethnischer Hintergrund, das Merkmal sexuelle Orientierung oder eben das Merkmal Behinderung.
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Auf deinem Blog schreibst du „Behinderung ist keine individuelle Angelegenheit, sondern ein gesellschaftliches und politisches Problem“ und dass „Behinderung durch gesellschaftliche Strukturen und Gesetze“ entsteht. Kannst du das genauer erklären?
Ich bin mit der Einstellung erzogen worden, dass meine Behinderung ein medizinisches Problem ist und somit auch erst einmal zu meinem gemacht wird. Ich bin aber ein großer Freund davon, dass man Behinderung nicht medizinisch, sondern sozial und gesellschaftlich betrachtet. Denn Behinderungen werden durch äußere Umstände, wie meine Krankheit, verursacht. Mein Körper und meine Biologie, so wie sie geschaffen sind, sind in Ordnung. Vielmehr sollten gesellschaftliche Strukturen dahingehend angepasst werden, dass ich mich mit meiner Biologie und meinem Körper ungehindert und frei in ihnen bewegen kann. Wenn ich schon damals mit diesem Bewusstsein erzogen oder es mir von Anfang an so vermittelt worden wäre, wäre ich vielleicht heute schon ein bisschen weiter und hätte mit dem ganzen Aktivismus nicht erst vor vier Jahren angefangen.

Meine Behinderung ist nicht nur mein Problem, sondern wird von all den Menschen, Vorurteilen und Gesetzen mit verursacht, die mich in meinem Alltag behindern.

Laura Gehlhaar
Wie war es denn früher in deiner Kindheit?
Naja, in meiner Schulzeit war ich immer die einzige Schülerin mit einer Behinderung.
Das heißt, du warst auf einer Regelschule?
Ja, ich war auf einem Gymnasium und dort natürlich immer automatisch der Sonderfall. Ich war immer die „behinderte Schülerin“, auf die ständig mit dem Finger gezeigt wurde. Das hat sehr viel mit meinem Selbstbewusstsein und meiner Selbstwahrnehmung gemacht. Heute lebe ich mit der Einstellung, dass meine Behinderung nicht mein Problem ist, sondern auch von all den Menschen, Vorurteilen und Gesetzen mit verursacht wird, die mich in meinem Alltag behindern.
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Würdest du dich heute als selbstbewusste und starke Frau bezeichnen?
Auf jeden Fall. Ich glaube, dass ich das eigentlich schon immer war, auch als Kind, als sich meine Behinderung noch nicht so gezeigt hat wie heute. Als ich dann meine Diagnose erhielt, wurde ich allerdings auf einmal sehr stark darauf reduziert. Das Merkmal der Behinderung war dann das Merkmal, was mich damals ausgemacht hat. Wenn dir von allen Seiten immer gesagt wird, dass du nicht normal bist, dass du dies nicht kannst und das nie können wirst, dann fällt es einem schwer das Selbstbewusstsein, das ja in dir schlummert, aufrechtzuerhalten. Ich habe natürlich auch heute noch meine schwachen Momente. Aber die darf ich auch als starke und selbstbewusste Frau haben.
Absolut. Welche Strategien haben dir ganz konkret dabei geholfen die Frau zu werden, die du heute bist?
Mir hat es enorm geholfen, mich mit anderen Behinderten auszutauschen. Vor allem mit Menschen, die Behinderungen ebenfalls als soziales und gesellschaftliches Problem verstehen. Das hat meine ganze Einstellung, auch zu mir selbst, komplett verändert. Außerdem hat mir das Lesen geholfen. Sehr viel lesen! Bücher zu lesen, die sich mit Diskriminierungs- und Gesellschaftsstrukturen auseinandersetzen. Ich kann mich seitdem viel besser einordnen und habe dadurch verstanden, wo genau ich gesellschaftlich diskriminiert werde und was ich dagegen tun kann.
Wo siehst du zum Beispiel beim Thema Barrierefreiheit noch Nachholbedarf?
Das mit der Barrierefreiheit ist in Deutschland leider nicht zufriedenstellend geregelt. Private Unternehmen und Locations sind immer noch nicht dazu verpflichtet, barrierefrei zu sein. Wenn ich in ein Café nicht reinkomme, weil da zum Beispiel keine Rampe ist, dann habe ich halt Pech gehabt. Ich kann dagegen nicht klagen. Das ist in anderen Ländern anders geregelt. In England oder Amerika könnte ich dieses Café anzeigen. Nicht, dass ich das in Deutschland jetzt immer und sofort tun würde, aber ich würde mir sehr wünschen, dass die Bereitschaft hierzulande größer wird, Orte barrierefrei oder zumindest rollstuhlgerecht zu gestalten. Ich bin ja schließlich auch Kundschaft und würde gern mein Geld für einen guten Kaffee oder eine gute Ramen ausgeben. Das vergessen manche Leute ganz schnell.
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Wo funktioniert es hingegen schon ganz gut?
Zum Beispiel ist das öffentliche Verkehrsnetz in Berlin sehr gut ausgebaut. Ich bin nun seit zehn Jahren hier und es hat sich sehr viel getan seitdem. Ich feiere das nicht und ich bin auch nicht dankbar dafür, weil es eigentlich längst eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Aber ich begrüße es sehr, da ich mich freier bewegen kann und viel unabhängiger bin.
Du bist Autorin und selbst viel in den Medien unterwegs. Wie divers und inklusiv sind unsere Redaktionen hierzulande?
Ich habe selbst nie fest in einer Redaktion gearbeitet. Aber ich kann so viel sagen: Keine*r der Jorunalist*innen aus etlichen Redaktionen, mit denen ich in den vergangenen Jahren zusammengearbeitet habe, die Interviews mit mir geführt oder Filme mit mir gedreht haben, hatte eine Behinderung. Und das waren wirklich viele Leute.
Und wie steht es um die Berichterstattung selbst?
Wenn ich mir in der Vergangenheit die Berichterstattung in den Medien angeschaut habe, dann stelle ich fest, dass sie doch immer sehr einseitig war. Beziehungsweise zweiseitig. Behinderte wurden entweder als Opfer oder als Helden dargestellt. Ich glaube, dass in der Medienwelt generell sehr wenig Berührungspunkte mit behinderten Menschen gegeben sind. Redaktionen und Medienhäuser sind noch immer wenig zugänglich für Menschen mit Behinderung.
Wie kann sich das zukünftig ändern?
Es ist ein Teufelskreis, aber im positiven Sinne. Das Motto der Behindertenbewegung, die aktuell sehr jung und sehr laut unterwegs ist, lautet: „Redet nicht über uns, sondern mit uns!“. Wenn mehr Menschen mit Behinderung Zugänge zu Ausbildungen und redaktionellen Arbeitsplätzen hätten, dann würden auch mehr Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen in Redaktionen sitzen, die, gerade weil sie eine Behinderung haben, gewissermaßen schon sensibilisiert sind für dieses Thema.
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Rollstuhlfahrer*in ist nicht gleich Rollstuhlfahrer*in

Laura Gehlhaar
Du siehst also die Verantwortung auch ganz klar auf Medien- und Arbeitgeberseite?
Ja, total. Das ist das eine. Andererseits müssen behinderte Redakteur*innen nicht automatisch immer nur über das Thema Behinderung schreiben. Inklusiv wäre, wenn ein*e Redakteur*in mit Behinderung mit einer großen Leidenschaft für Mode auch über Mode schreibt.
Inklusiv wäre es auch, wenn man in den Fluten an Bildern, die uns täglich erreichen, vielfältigere Menschen zeigt. Schwarz, weiß, dick, dünn, mit Behinderung und ohne Behinderung – ohne es immer extra kommentieren oder hervorheben zu müssen.
Ganz genau. Menschen, die eine Behinderung haben, sind entweder in den Medien, weil eine krasse Schicksalsstory gedreht werden muss oder weil behinderte Studierende vor Gericht ziehen müssen, damit sie an der Uni studieren können und dafür mediale Aufmerksamkeit brauchen. Die Themenfelder, in denen Menschen mit Behinderung gezeigt werden, sind einfach noch sehr begrenzt und eingeschränkt.
Wenn du dich auf einen Job bewirbst, gibst du deine Behinderung dann an?
Ja, das mache ich schon.
Hast du jemals einen Job aufgrund deiner Behinderung nicht bekommen?
Ja, klar.
Wie bist du damit umgegangen?
Die Gründe habe ich ja nie erfahren. Wenn ich aber aktiv in einen Bewerbungsprozess mit eingebunden war, vielleicht sogar zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde und dann vor Ort bemerkt habe, dass es nichts wird, weil etwa die Toilette über drei Stufen nicht für mich erreichbar ist oder die Türen nicht elektrisch öffnen, dann ist das natürlich eine frustrierende Feststellung. Das ist sicherlich ein Grund für mich gewesen, mich selbstständig zu machen. Diese Art von Frust muss ich jetzt nicht mehr aushalten.
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Aber in der Selbstständigkeit zu arbeiten kann ja nicht für alle Menschen mit einer Behinderung per se die Lösung sein.
Generell würde ich mir von Arbeitnehmer*innen wünschen, dass sie Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen offener gegenüber stehen. Und dass sie vor allem immer, wirklich immer, in den direkten Kontakt und die direkte Kommunikation gehen mit ihnen, denn Rollstuhlfahrer*in ist nicht gleich Rollstuhlfahrer*in. Jemand, der einen E-Rollstuhl hat, kommt vielleicht über eine kleine Stufe nicht so einfach rüber, während ich mit meinem Rollstuhl das problemlos schaffe. Oder wieso können wir uns nicht vorstellen, dass jemand der blind ist, einen Laptop bedienen kann? Fragt doch diese Person einfach, ob sie es kann. Höchstwahrscheinlich wird sie nicht erst seit gestern blind sein und sich auch nicht ohne jegliche Erfahrungen auf so eine Stelle bewerben. Glaubt mir: Sie wird wissen, wie man einen Laptop bedient.
Wie gehst du mit Menschen um, die unsicher sind, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen?
Das ist ein Thema, über das ich komischerweise gerade momentan sehr häufig nachdenke. Ich frage mich, wo diese Unsicherheit eigentlich herkommt? Ich denke aber, ich habe eine Antwort darauf.
Welche?
Wir haben in unserer gesellschaftlichen Mitte viel zu wenig Kontakt mit Menschen mit Behinderungen. Das liegt daran, dass behinderte und nicht-behinderte Kinder in Schulen immer noch nicht gemeinsam aufwachsen und lernen. Wir betrachten Behinderung immer noch als etwas sehr Außergewöhnliches, als etwas, das uns Angst macht und uns verunsichert. Es macht mich persönlich sehr traurig und wütend, dass Menschen wie mir immer noch mit Unsicherheit begegnet wird. Wir schreiben das Jahr 2018 – und es gibt nicht erst seit gestern behinderte Menschen. Ich finde, wir tragen alle die Verantwortung, uns über bestimmte gesellschaftliche Dinge zu informieren und zu bilden. Ich recherchiere auch im Internet, was es für People of Color bedeutet diskriminiert zu werden, welche Begriffe es da gibt und so weiter. Jede*r sollte wissen, warum man bestimmte Dinge einfach nicht tut und sagt. Und genau so einen Bildungsdrang würde ich mir auch für meine Diskriminierungsform wünschen. Ich möchte, dass ein ganz normaler Umgang stattfinden kann. Unsicherheiten, die mir in meinem Alltag begegnen, übergehe ich dennoch sehr häufig mit meiner offenen Art. Manchmal einfach, indem ich meinen Mund aufmache und einen Satz geradeaus spreche. Manche Menschen sind überrascht, dass ich ja tatsächlich ganz normal reden kann. Damit nehme ich ihnen natürlich auch ihre Unsicherheiten.
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Das dümmste, was du jemals gefragt wurdest?
Gerade neulich ist mir etwas Lustiges passiert. Ich bin gerade aus der U-Bahn gestiegen, habe aber noch mal kurz angehalten, um irgendetwas aus meiner Tasche zu graben. Dann kam eine Frau zu mir und fragte mich: „Sind Sie alleine hier?“. Ich: „Ja.“ Sie: „Aber Sie kommen zurecht?“. Solche skurrilen Situationen sind einfach fester Bestandteil meines Alltags.
Reagierst du manchmal auch genervt auf solche Kommentare?
Je nach dem wie ich drauf bin. Ich habe mir mühsam abgewöhnt, Leute direkt anzumotzen – obwohl es mir manchmal wirklich sehr schwer fällt. Da Leute permanent auf mich zukommen und fragen, ob sie mir helfen können, habe ich mir angewöhnt nett zu antworten und zurückzufragen: „Nein danke. Aber kann ich Ihnen denn irgendwie behilflich sein?“ Die Personen reagieren in den meisten Fällen ähnlich wie ich, nämlich sehr irritiert.

Wir betrachten Behinderung immer noch als etwas Außergewöhnliches

Laura Gehlhaar
Wie sieht es mit Humor aus?
Humor ist sehr wichtig für mich. Ich würde behaupten, dass ich einen sehr schwarzen Humor habe, manchmal sogar sarkastisch bin und durchaus auch ein bisschen zynisch werden kann. Das können nicht alle Leute gut haben, was total in Ordnung ist, denn ich kann ja auch nicht mit allen. Aber ich bin der Überzeugung, dass man mit Humor ganz viele Barrieren auf einmal zerschlagen kann. Humor ist ein gutes Mittel, um Berührungsängste abzubauen.
Du hast auf jeden Fall vor Jan Böhmermann bestanden. Ich fand dich grandios in seiner Sendung.
Danke. Wobei ich ein bisschen aufpassen muss, dass ich nicht ständig als Alleinunterhalterin dienen oder als Clown auftreten muss, die mit ihrer ach so lustigen Art immer den Leuten ihre Berührungsängste nehmen muss. Da habe ich natürlich auch nicht immer Lust drauf. Ich schaue schon, dass die Verantwortung, Barrieren und Unsicherheiten abzubauen, nicht immer nur bei mir alleine liegt.
Ihr findet Laura auch auf Instagram oder Twitter.

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