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Hört auf, kleinen Mädchen zu erzählen, dass sie alles schaffen können

Foto: Getty Images.
Ich bin mit der Lüge aufgewachsen, alles schaffen zu können. Und damit war ich nicht alleine: Alle meine Mitschülerinnen träumten davon, eines Tages zu regieren, einen Oscar zu gewinnen oder die erste Frau auf dem Mars zu sein. Diese Nachricht wurde uns bis ins Erwachsenenalter eingebläut, ob durch das Fernsehen, durch Kunst und Literatur oder das progressiv-feministische Mindset unserer Eltern. Mit den 90ern kam dann eine rosarote Bubblegum-Version des Spektakels: Die Spice Girls manifestierten ihren Schrei nach „Girl Power“, der genauso catchy wie auch ineffizient war. Ich wuchs also auf in einer Blase aus warmen, wohlwollenden, feministischen Forderungen, zunehmend frauenfreundlicher Popkultur und dem Einvernehmen, dass das genau so sein soll. Ich wusste relativ früh, dass ich weder ein hohes Tier in der Politik noch Astronautin werden würde. Ich wollte die nächste große Denkerin und Autorin von Amerika werden. Ich wollte schreiben und publizieren. Ich war mir sicher, dass da eine weibliche Version von Huck Finn in mir steckte, die lediglich noch geschrieben werden müsste. Oh, ich sah sie schon, die Pulitzer und die Literaturpreise. Während Lehrer und Fremde sich schnell von meiner Zukunftsvision beeindrucken und hinreißen ließen und mich stets ermutigten, gab es nur eine Person, die meine Füße fest auf den Boden der Tatsachen zu verankern wusste: meine Mutter. Sie war 30 Jahre vor mir auf dieselbe Schule gegangen und wuchs mit denselben Utopien auf. Auch sie wollte schreiben und auch sie glaubte an ihre unumgängliche Erfolgsgeschichte. Doch was anstelle dessen geschah, wiederholte sich in meinem Werdegang: Meine Mutter ging ans College und studierte Literatur, schloss den Master ab und zerbrach währenddessen an der Kritik ihrer Dozenten und Mitstudierenden. Die Zeit an der Uni hatte all ihre Leidenschaft für das Schreiben stillgelegt.
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Foto: Marshall Bright.
Fest entschlossen, ihrer Tochter nicht solche Märchen vorzugaukeln, erzählte mir meine Mutter ehrlich und unaufgeregt die ganze Geschichte von den anfänglichen Ambitionen bis zum Masterabschluss. Sie versuchte außerdem, mich zu ermutigen – nein, besser gesagt: zu beschützen, indem sie mir etwa sagte: „Emily Dickinson ist übrigens auch erst nach ihrem Tod zu Erfolg gekommen“, und, „Nur wenige Schriftsteller bekommen einen Buchvertrag, auch wenn sie gut sind“. Damals dachte ich, dass sie mir mit solchen Sprüchen auf die nette Art kommunizieren möchte, dass ich einfach nicht gut war. Rückblickend kann ich sicher sagen, dass sie mich lediglich mit einer kleinen Dosis Realismus infiltrieren wollte, denn das Leben als Autorin, Schriftstellerin oder Journalistin ist alles andere als einfach. Als ich ans College ging, ließ ich all meine journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen hinter mir. Die etwas dystopischen Visionen meiner Mutter hatten ihr Übriges dazu beigetragen. Da ich das Schreiben allerdings nicht endgültig aufgeben wollte, beschloss ich, ins Kommunikations- und Pressebusiness einzusteigen. Dort, so dachte ich, könnte ich meiner Liebe zu Worten zumindest in Form von Pressemeldungen und Newslettern ein wenig nachgehen. Dieser Wunschtraum hielt allerdings nicht allzu lange an. Nach einer Weile kam der Moment, in dem ich mir eingestand, dass ich mich lieber als Autorin versuchen und dabei kläglich scheitern würde, als in einem Beruf erfolgreich zu sein, mit dem ich auf persönlicher Ebene nichts anfangen kann. Also zog ich nach New York, um es diesmal wirklich, ehrlich, aufrichtig zu versuchen. Mit allem, was mir blieb. Auf diese Entscheidung folgten zweieinhalb Jahre lang voll Miss- und kleinerer Erfolge. So klein, dass sie allgemein auch eher zu den Misserfolgen zählten. Nach ca. 74 Bewerbungen, einer Reihe von Nebenjobs, die wenn, dann nur marginal etwas mit dem zutun hatten, das ich eigentlich tun wollte, und einer Vielzahl von Familienfeiern, auf denen ich immer wieder betonen musste, dass nicht alle Nannys sich ein goldenes Näschen verdienen und dass es schier keine Option für mich war, diesen Job für immer zu tun, fand ich meinen Weg zu Refinery29. Ein Vollzeitjob in der Redaktion. Seit dem 1.1. bin ich ganz offiziell „Redakteurin“. Wenn ich jetzt jemandem erzähle, ich sei Journalistin, fühlt es sich immer noch so surreal an, als würde ich ihnen gerade aufbinden, ich sei zu einer Disney Prinzessin herangewachsen. Während meine Mutter mir mit ihren Sprüchen nicht direkt Mut eingeflößt hat, hat sie mich entgegen vieler Bedenken auch von nichts abgehalten. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, dass ich erst durch sie begriffen habe, was unter Umständen auf mich zukommt. So konnte ich mich schon früh darauf vorbereiten, mit Kritik und Hindernissen umzugehen. Ich konnte meinem Gegenüber immer schon einen Schritt voraus sein – und mich selbst üben, in Selbstvertrauen und im Können.
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Sich einzureden, es wäre leicht für Frauen und alles sei möglich, ist langfristig nicht der richtige Weg.

Natürlich ist es mehr als verständlich, dass Frauen sich nach jahrhundertelanger Unterdrückung und Verboten, die ihnen von der Gesellschaft auferlegt wurden und sie an der Teilnahme etlicher Lebensbereiche hinderten, einreden, sie könnten alles schaffen. Ich verstehe die Versuchung, das immer weiterzutragen. Allerdings ist das leider nicht die Welt, in der wir leben. Sich einzureden, es wäre leicht für Frauen und alles sei möglich, ist langfristig nicht der richtige Weg.
Obwohl wir uns als Gesellschaft schon bemerkenswert vorwärts bewegt haben, haben es Frauen und Mädchen noch immer wesentlich schwerer, ihren Traumberuf oder ihre Karriere zu verfolgen als Männer. Die Arbeitsrealität einer Frau ist ernüchternd. In den USA verdienen Frauen im Schnitt 77 Cent pro Dollar eines männlichen Einkommens, in Deutschland sind es 88 Cent pro Euro. Natürlich gibt es Erfolge zu verzeichnen, doch meist kommen sie mit einer Fußnote: 2017 gibt es beispielsweise eine Rekordanzahl an weiblichen CEOs der Fortune 500 Unternehmen – die bahnbrechende Zahl lautet in diesem Fall 24. Ein Mädchen, das heute geboren wird, kann mit wachsender Wahrscheinlichkeit 100 Jahre alt werden – und wird mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit noch immer nicht genauso viel verdienen wie ihr männlicher Counterpart. Wir sehen, es gibt noch etliche Glasdecken, die es auf dem Weg nach oben zu brechen gilt. Doch wenn wir den jungen Mädchen und heranwachsenden Frauen erzählen, sie könnten alles erreichen, ohne ihnen dabei die dafür nötigen Instrumente an die Hand zu geben und ihre Erwartungshaltung etwas zu drosseln, dann sind das alles nur leere Versprechen. Wir können uns alle einig sein, dass wir mehr Frauen in Aufsichtsräten, in Gerichtssälen, in Tech-Startups brauchen. Doch Mädchen zu sagen, dass sie mit bloßer harter Arbeit all ihre Ziele erreichen, wäre schier kurzsichtig. Diese uneingeschränkt Euphemismusbrille negiert dabei eine jahrhundertealte Tradition von Sexismus und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Es heißt nicht, dass etwas nicht möglich ist. Man sollte jedoch Klartext reden, was die Erwartungen angeht. Denn die Hindernisse, die einer Frau in den Weg gelegt werden, könnten sich negativ auf die Ambitionen und das Selbstvertrauen auswirken. Wer nicht ganz die 100-Prozent-Marke erreicht, weil es durch gewisse ungleiche Strukturen einfach so ist, der sollte nicht an seinen Fähigkeiten zweifeln. Ich sage nicht, dass wir jeder 6-Jährigen den Traum vom Staatsoberhaupt absprechen sollen. Ich finde nur, dass wir sie schon im Voraus darüber aufklären sollten, wie das mit den Mitbewerbern, der Kritik, der Bezahlung und der öffentlichen Meinung aussehen kann. Wir sollten junge Frauen nicht zu naiv verträumten, blind hoffnungsvollen Menschen heranziehen, sondern sie zu Problemlöserinnen, starken Teamleadern und guten Freundinnen machen. Zu Frauen, die ihre Schwächen und Stärken einzusetzen wissen und sich nicht kleinkriegen lassen, weil sie mit 26 das erste Mal eine ungerechtfertigte Absage bekommen. Wir sollten Mädchen erklären, dass die größte Kraft bereits in ihnen, im Hier & Jetzt liegt und nicht in utopischen Vorstellungen von dem, was noch vor uns liegt. Vielleicht werden wir – und sie selbst – dann von dem überrascht sein, was sie sich ermöglichen und schaffen.

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