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Mit 24 Jahren traue ich mich noch immer nicht, ohne meine Eltern zu schlafen

Foto: Brooke DiDonato
Wenn ich im Sommer durch meinen Instagram-Feed scrolle, überkommt mich meist Trauer, Angst und Verlegenheit. Warum? Weil ich all diese Urlaubsfotos sehe, aber selbst noch nie Urlaub gemacht habe – weder mit Freunden oder Freundinnen noch meinem festen Freund und auch nicht allein.
Und nicht nur das: Wenn es nicht unumgänglich war, habe ich auch nie bei Verwandten übernachtet. Ich habe nie an Klassenfahrten teilgenommen und bin auch nicht aus meinem Elternhaus ausgezogen, als ich mit dem Studium begonnen habe. Zwar war ich als Kind bei ein paar Pyjamapartys, aber die Abende, an denen ich nicht spontan von meinen Eltern abgeholt werden musste, kann ich an einer Hand abzählen.
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Solange ich denken kann, leide ich unter wirklich schlimmen Panikattacken. Sie treten entweder auf, wenn ich eine Nacht nicht zu Hause verbringen kann oder meine Eltern ausgehen und mich mit Verwandten „allein“ lassen. Am Anfang wurden meine Panikattacken nicht ernst genommen – es hieß, ich sei einfach ein „schwieriges“ Kind. Aber als es über die Jahre nicht besser wurde, mussten sich alle eingestehen, dass ich ein Problem habe.

Wenn ich mir meine Angst nicht rational erklären kann, wird mein Atem immer kürzer und mein Körper fängt an, sich krampfhaft zusammenzuziehen.

Mittlerweile bin ich 24 Jahre alt und bekomme nur sehr selten Panikattacken, wenn meine Eltern das Haus verlassen. Aber ohne sie irgendwo übernachten kann ich immer noch nicht. Vor kurzem habe ich versucht, bei meinem Freund zu schlafen. Ich erlitt die schrecklichste, heftigste Panikattacke, die ich jemals durchstehen musste: Ich habe mich drei Stunden lang gekrümmt und gezittert und konnte kaum sprechen. Das Einzige, was ich rausbrachte war „Ich kann nicht mehr“, während ich Wellen des Terrors ertragen musste. Mein Freund brachte mich schließlich wieder nach Hause, weil er es nicht ertragen konnte, mich so zu sehen.
Verschiedene Therapeut*innen vermuten, dass ich eine Panikstörung oder extreme Phobie habe. Ich habe kein Trauma in meiner Kindheit erlitten, an dem man meine Angst festmachen könnte. Und trotzdem kann ich nicht alleine in meinem Elternhaus bleiben, ohne panisch zu werden. Ich esse dann so wenig wie möglich, um die Phasen der Übelkeit zu minimieren. Ich fange urplötzlich an zu weinen und mich überkommt das Gefühl, dass man mich im Stich gelassen und verraten hat. Dass mich Menschen in diese Situation gebracht haben, die wissen, dass ich damit nicht alleine fertig werden kann. Dann habe ich eine Panikattacke und Angst, dass sie niemals endet. Irgendwann bin ich dadurch so erschöpft, dass ich bewusstlos werde.
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Ich habe schon zwei Mal eine kognitive Verhaltenstherapie gemacht, die von der Krankenkasse gefördert wurde. Die Ursachen für meine Panikattacken konnten wir aber auch hier nie wirklich ergründen. Wir konzentrierten uns stattdessen eher auf die Angststörung, die sich bei mir als Teenager wahrscheinlich deshalb entwickelt hat, weil ich mir schon damals sehr dessen bewusst war, dass ich geradewegs auf meine Zwanziger zusteuerte und immer noch nicht ohne meine Eltern woanders schlafen konnte.
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Außerdem habe ich auch eine kognitive Hypnotherapie gemacht, die ich privat zahlen musste, durch die ich aber zumindest ein paar Bewältigungstechniken lernen konnte, die ich noch heute anwende. Der kognitive Fokus der Therapien macht für mich allerdings nicht so viel Sinn, weil es nicht so ist, dass ich vor einer Panikattacke spezielle negative Gedanken habe. Es ist das Gefühl von schrecklicher Angst, die ohne jede Warnung kommt, und dann wird mir einfach nur unglaublich schlecht. Wenn ich mir meine Angst nicht rational erklären kann, wird mein Atem immer kürzer und mein Körper fängt an, sich krampfhaft zusammenzuziehen. Manche Menschen erzählen, dass sie befürchten, ihr Herz könnte aufhören zu schlagen. Das denke ich nicht. Ich nehme gar nicht richtig war, was physisch mit mir passiert oder passieren könnte. Allerdings gibt es Augenblicke, in denen ich Angst habe, etwas in meinem Kopf könnte kaputtgehen oder die Panikattacke einfach nicht aufhören und ich muss ins Krankenhaus und werde nie wieder die, die ich früher mal war.
Im Alltag kann ich die Angst, dieses Problem niemals loszuwerden, ganz gut ignorieren. Da die Mieten in London aktuell unfassbar hoch sind, kann ich das als Ausrede dafür verwenden, dass ich immer noch bei meinen Eltern wohne, einige meiner Freund*innen machen das nämlich auch. Ich habe einen Job, bei dem ich nicht verreisen muss und durch den ich mich gebraucht fühle. Aber in schlechten Momenten wird mir alles wieder schlagartig bewusst: Mit 24 Jahren solltest du auf eigenen Beinen stehen – für dich, für deine Familie, für deinen Freund. Ich habe Angst, dass sie irgendwann einmal die unglaubliche Geduld verlieren, die sie jetzt noch haben. Alle entwickeln sich so schnell weiter und ich kann einfach nicht mithalten. Ich brauche mehr Zeit. Ich wünschte, ich wäre jünger und mein größtes Problem wäre es, eine Wohnung zu finden. Stattdessen traue ich mich nicht, mein Elternhaus zu verlassen und befürchte, meine Eltern damit zu erdrücken. Der Gedanke, irgendwann auszuziehen, fühlt sich für mich wie eine näherrückende Deadline an, die ich nicht einhalten kann.
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Ich bin froh, dass meine Lieblingsmenschen nicht das Gleiche durchmachen müssen wie ich. Gleichzeitig wünschte ich, mich mit einem solchen Problem nicht alleine rumschlagen zu müssen.

Ich habe bisher nur einer Handvoll Menschen von meinen Panikattacken erzählt und verharmlose diese dann auch noch im Gespräch. Zwar sagen sie oft, dass sie sich Sorgen um mich machen oder es ihnen leid tut, aber wirklich verstehen kann mich niemand. Zumindest habe ich noch niemanden getroffen, der oder die die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie ich. Wenn ich Leuten, die alleine oder mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenwohnen, erzähle, dass ich mich nicht traue, von zu Hause auszuziehen, fühle ich mich wie ein kleines Kind. Natürlich bin ich im Grunde froh, dass meine Lieblingsmenschen nicht das Gleiche durchmachen müssen wie ich. Gleichzeitig wünschte ich, mich mit einem solchen Problem nicht alleine rumschlagen zu müssen. Es gibt sogar ein paar seltene Fälle, in denen Menschen so viel Feingefühl fehlt, dass sie Witze darüber machen, dass ich niemals von zu Hause ausziehen werde. In solchen Momenten nicht zu weinen, wird dann zu einer riesigen Herausforderung. Es ist kräftezehrend, belastend, deprimierend und fühlt sich schier endlos an.
Ich wollte mich vor kurzem wieder für eine kognitive Verhaltenstherapie anmelden, habe es allerdings nur auf eine sechsmonatige Warteliste geschafft. Ich weiß nicht, ob es vielleicht andere Therapien gibt, die mir helfen könnten. Ich habe Angst, dass die Panikattacken nie verschwinden. Manchmal träume ich davon, ein „normales“ Leben zu führe, aber nur, wenn es mir emotional gut geht. Ich habe das Gefühl, ich würde gegen den Strom schwimmen, während alle anderen sicher an Land sind. In lichten Momenten denke ich, dass ich mich ihnen annähere, aber im nächsten Moment fühlt es sich schon wieder so an, als würde ich ertrinken.

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