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Seitdem ich eine Glatze habe, fühle ich mich weiblicher denn je

Ich bin 181 cm groß, meine Stimme ist tief, meine Hobbies haben – Trommelwirbel – mit Autos und Computerspielen zu tun und ich liebe Whiskey. Deine Küche muss eingebaut und dein Schrank zusammengebastelt werden? Ich bin dein Mann.
Eben nicht. Ich bin eine Frau und stolz drauf.
Mir wurde mein Leben lang gesagt, ich sei zu maskulin.
Bis zu meinem 20. Lebensjahr trug ich deshalb mein Haar lang und wenn ich sage lang, meine ich lang, bis unter den Hintern lang. Dann sollten sie ab. Erst asymmetrischer Bob und kurz danach Pixie mit langem Pony. Weißblond, dann Silber. Dunkelbraun und Rot. Was soll ich sagen, man ist experimentierfreudig. Als nächste Phase: Rockabilly. Und die Haare wuchsen. Marilyn Monroe, mein Spirit-Animal. Oder Rita Hayworth? Wie dem auch sei. Wurde mir gesagt, ich seh toll, vielleicht sogar sexy aus? Ja. Fand ich das auch? Ja – aber nicht wirklich. Das war nicht ich. Ich eiferte einem klassischem Ideal hinterher. Dann kam die Trennung von der vermeintlichen Liebe meines Lebens und mit ihr mussten auch die Haare weichen. Es lebe das Klischee. Aber auch da waren sie noch nicht ganz ab: Seiten und Nacken kurz, aber oben noch lang.
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Wie lässt man sowas elegant rauswachsen? Gar nicht, weil Mittelscheitel bei mir einfach keine Option ist. Ich fing an mit der Idee eines raspelkurzen Schnittes zu liebäugeln. Die Eier dazu hatte ich nicht.
Aber wie das Leben so spielt, ließ es mir keine andere Wahl.
Ich ging wegen einer Grippe zum Arzt und kam mit einer Krebsdiagnose nach Hause, oder eher noch: ins Krankenhaus. Als mein Freund mich am nächsten Tag besuchte, hatte er sich schon aus Solidarität seiner Tolle entledigt. Mir war schnell klar, dass ich nicht drauf warten würde, bis sie büschelweise ausfielen und hatte ehrlich gesagt auch keinen Bock darauf, mir die Haare beim Kotzen – dazu kam es Gottseidank nicht – aus dem Gesicht zu halten. Nach fünf Tagen durfte ich heim und eine gute Freundin, die Friseurmeisterin ist, kürzte auf 3 Millimeter. Unausweichlich zeichneten sich während der Chemo auch am Kopf Flecken ab und an der Nassrasur führte kein Weg vorbei.
Alle fragten ob ich eine Perücke will. Eine gute Bekannte, die auch an dieser Krankheit leidet, kam mit ihrer Auswahl vorbei. Ich probierte alle an, vergebens. Nicht schon wieder eine Verkleidung.
Zu meinem Glück verlor ich weder meine Wimpern noch Brauen komplett, deswegen wurde ich von Unwissenden nur als ‘edgy’ eingestuft und nicht als krank. „Das steht dir so gut“, kam über viele erstaunte Lippen. Ob nun aus Mitleid derer, die eingeweiht waren, oder wirklich ernst gemeint, weiß keiner. Ich sehe mich aber gerne im Spiegel. Mein Lieblingslippenstift knallt jetzt doppelt und Ohrringe sind die besten Sidekicks. Hilft es, dass mein Freund mir jeden Tag sagt, wie schön er mich findet? Mit Sicherheit. Vielleicht hat mich der Scheißkrebs ein bisschen gnädiger mit mir selber sein lassen. Auf jeden Fall habe ich eins gelernt: Weiblichkeit hat, zumindest für mich, weder was mit der Haarlänge noch mit den paar Pfund extra oder zu wenig zu tun. Ich kann mir mittlerweile in die Augen gucken und sehe nur mich und nicht die nächste Rolle, in die ich schlüpfen könnte. Eine Frau, die sich selbst zum ersten Mal kennengelernt hat und sich gut findet, mit oder ohne Haare.
Vor ein paar Wochen wurde ich freigesprochen. Meine Härchen wachsen wieder und bald sicher wieder ebenmäßig, aber ich glaube, ich bleib noch ein wenig länger bei der Glatze.

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