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Wie es ist, mit drogensüchtigen Eltern aufzuwachsen

Foto: Mert Mayda.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Drogenkonsum und suizidale Gedanken.
Drogen- und Alkoholmissbrauch betrifft nicht nur Süchtige. Er kann Familien zerreißen, finanzielle Schwierigkeiten verursachen, missbräuchliches Verhalten fördern und, im Fall von süchtigen Eltern, deren Kinder für den Rest ihres Lebens beeinträchtigen. 
Veronica Cook, 41, wuchs mit heroinsüchtigen Eltern auf. Ihr Vater begann mit dem Konsum schon im Alter von 12 oder 13 Jahren, nachdem ihn ältere Teenager zu der Droge gebracht hatten. Ihre Mutter wurde mit 25 süchtig, nachdem sie bereits ein Jahrzehnt mit Cooks Vater zusammen gewesen war. Hier erzählt Cook ihre Geschichte. Sie hat auch ein Buch über diese Erfahrung geschrieben: Veronica, Hidden Harm
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Beide lebten jahrelang mit der Heroinsucht. Irgendwann begingen sie sogar kleinkriminelle Verbrechen, um ihre Sucht zu finanzieren. Als sie darauf keine Lust mehr hatten, beschloss mein Dad, dass es besser sei, Heroin zu verkaufen, anstatt von der Polizei bei Einbrüchen oder Ähnlichem erwischt zu werden. Es fing damit an, dass sie erst nur an Leute verkauften, die sie kannten. Sie verteilten das Heroin nicht auf der Straße und auch nie an zu junge Leute; aus ihrer Sicht blieben sie also moralisch auf der „guten Seite“. Klar, die Gesellschaft sah das ganz anders, aber ihrer eigenen Meinung nach versuchten sie einfach zu überleben – und da mussten sie sowas eben tun.

Dann fand ich sie bewusstlos mit Spritzen im Arm am Boden liegend.

Ich weiß schon von ihrer Sucht, solange ich denken kann. Ich war wohl circa sechs Jahre alt, als ich zum ersten Mal bewusst mitkriegte, wie sie sich etwas spritzten, und ich erinnere mich noch daran, wie mein Dad nach einer unreinen Dosis Heroin verkrampfte und zuckte. Ganz zu Anfang, als sie noch Spritzen benutzten, schickten sie mich ins andere Zimmer, weil sie nicht wollten, dass ich das mitansah. Das wäre für ein Kind wohl auch ein ziemlich gruseliger Anblick gewesen. Durch die Wirkung der Drogen fielen sie aber leider ziemlich oft stundenlang in Ohnmacht. Als das Kind, das ich nun mal war, trieben mich Hunger, Durst und/oder Langeweile früher oder später aus dem Nachbarzimmer, und dann fand ich sie bewusstlos mit Spritzen im Arm am Boden liegend. Sie wollten nicht, dass ich das weiter erleben musste, also hörten sie auf mit den Spritzen und gingen dazu über, stattdessen Heroin zu rauchen. Damals war ich etwa neun Jahre alt, und daraufhin schien das mit dem Elterndasein etwas besser zu klappen.
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Eine sehr frühe Erinnerung hat sich besonders stark in mein Gedächtnis gebrannt. Ich muss zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, und mein Dad erzählte irgendwas von „smack“ – dem umgangssprachlichen Begriff für Heroin. Ich weiß noch, dass ich auf seine Drogen zeigte und sagte: „Smack, Daddy!“ Daraufhin sprang er auf und haute mir schmerzhaft auf den Hintern. Daran kann ich mich noch so gut erinnern. Ich hatte ihm wohl zeigen wollen, wie clever ich war, dass ich mir den Begriff hatte merken können – dabei hätte ich in dem Alter überhaupt nichts davon wissen sollen.
Meine Schwestern wurden geboren, als ich acht und zwölf Jahre alt war. Beide waren von Geburt an abhängig. Ich weiß noch, dass man ihnen die Drogen schon im Krankenhaus abgewöhnen musste. Meine Mum war eigentlich immer strikt gegen die Drogen gewesen und hatte meinem Dad gedroht, sie würde ihn verlassen, wenn er nicht clean wurde. Irgendwann kam es aber soweit, dass er tagelang verschwand. Schließlich wurde sie schwach und fing ebenfalls mit dem Heroin an, um bei ihm zu sein. Sie sagte immer, sie hätte das Zeug nie angerührt, bis sie 25 war.

Meine Eltern dealten irgendwann mit kiloweise Heroin, und wir lebten wie im Schlaraffenland.

Meine Kindheit war in vielerlei Hinsicht sehr liebevoll, teilweise aber auch total dysfunktional, stressig und emotional, weil ich so viel Schlimmes mitbekam. Ich hasste es. Ich hatte das Gefühl, sie liebten das Heroin manchmal mehr als mich – und dass sie mich wohl nicht genug liebten, weil sie sonst ja sicher mit dem Konsum aufhören würden. Ich konnte es einfach nicht begreifen, obwohl sie es mir als Krankheit erklärten. Ich fühlte mich nicht sehr sicher und hatte immer Angst davor, was wohl passieren würde. Würde ich am nächsten Tag aufwachen und sie tot im Wohnzimmer liegend finden, weil sie versehentlich eine Überdosis genommen hatten?
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Ich war ungefähr neun oder zehn Jahre, als mir ihre Deals so richtig bewusst wurden. Den ganzen Tag über kamen und gingen immer wieder andere Leute, und ich war ihre kleine Bedienstete, die ihren Kund:innen die Tür öffnete und ihnen Tee kochte. Dafür bekam ich sogar Taschengeld. Meine Eltern dealten irgendwann mit kiloweise Heroin, und wir lebten wie im Schlaraffenland. Sie gaben mir beispielsweise Geld fürs Taxi, um quer durch London zu fahren und Freund:innen zu besuchen. Einerseits hatte das was von „Schaut mal, was wir für ein geiles Leben führen“ – andererseits bezogen meine Eltern aber auch jahrelang Sozialhilfe. Sie dealten, bekamen aber gleichzeitig Geld vom Staat. Als ich älter wurde, begriff ich, wie moralisch falsch das war.
Ich zog erst mit 24 aus, weil ich das Gefühl hatte, sie brauchten mich und ich dürfte sie nicht im Stich lassen. Ich war ihre Stütze, brachte meine Schwestern zur Schule und Terminen, kochte Abendessen und putzte das Haus. Ich wurde schon früh zu einer kleinen Hausfrau. Ich wünschte mir, ich hätte ihnen dabei helfen können, clean zu werden – stattdessen kam ich mir so vor, als würde ich ihrer Sucht und ihrem kriminellen Business durch meine liebevolle und hilfreiche Art auch noch helfen. Als ich irgendwann anfing, mein eigenes Leben zu leben, zerbrach ihr Geschäft daran komplett, und mein Dad machte mich dafür sogar verantwortlich. Er wurde sehr verbittert, und ich habe heute nichts mehr mit ihm zu tun. Die Drogen hatten seine Persönlichkeit stark verändert. Meine Mum starb 2012, und auch zu meinen Schwestern habe ich keinen Kontakt mehr. Sie stellten sich auf die Seite meines Vaters, trotz seines uneinsichtigen Verhaltens.
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Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Kleinkind total high war und um mehr Gras bettelte.

Wenn Mum und Dad nicht mit ihrer Sucht zu kämpfen gehabt hätten, wären sie wohl tolle Eltern gewesen. Meine Mum war eine liebevolle, fürsorgliche Frau, die immer ihr Bestes für mich gab – trotz des Drucks, den ihre Sucht auf sie ausübte. Die Gesellschaft stellt Heroinsüchtige immer als schmutzig dar. In meinem Fall war das aber überhaupt nicht so: Meine Mum war ein sehr reinlicher Mensch. Sie versuchte immer, das Haus relativ sauber und ordentlich zu halten, und kochte uns häufig Mahlzeiten. Ja, die kamen oft später, als wir uns vielleicht gewünscht hätten – aber sie gab ihr Bestes. Die beiden waren clevere Leute. Sie waren junge Hippies gewesen, die ein bisschen Gras geraucht und hier und da ein paar Pillen eingeworfen hatten. Irgendwann dealten sie dann Heroin. Eins führte zum anderen.
Mein Leben hätte sich wohl sehr anders entwickelt, wenn sie anders gewesen wären. Ich hätte eine friedlichere Kindheit und sicher viel mehr Chancen gehabt. In der zehnten Klasse war ich nur zu 14 Prozent aller Stunden da, weil sich meine Eltern nicht darum kümmerten, ob ich zur Schule ging oder nicht. Wenn ich mir den Tag freinehmen wollte, konnte ich das machen. Wenn ich zu Hause bleiben und Zigaretten rauchen wollte, war das okay.
Ich litt damals unter starken Depressionen. Meine Mum sagte, ich hatte meinen ersten Nervenzusammenbruch, als ich zehn Jahre alt war. Heute habe ich meine geistige Gesundheit besser im Griff. Ich habe mir Hilfe gesucht, und es hat mir enorm geholfen, über mein Leben zu schreiben und es auf diese Weise zu verarbeiten. Für lange Zeit hatte ich viel zu viel Angst, um selbst Drogen zu nehmen, obwohl mich meine Eltern mit Marihuana gefüttert hatten, bis ich fünf oder sechs war. Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Kleinkind total high war und um mehr Gras bettelte. Mein Dad leugnete das immer und behauptete, ich hätte mir das alles eingebildet; als er aber im Gefängnis saß, beichtete Mum es mir. „Wir bereuen es sehr“, sagte sie. „Uns war nicht klar, wie sehr dir das schaden würde.“ Erst, als ich mit fünf Jahren einen schlimmen Anfall hatte – ich hatte Halluzinationen von Schlangen, die aus meinem Kleid kamen und mich angriffen –, hörten sie auf, mir Gras zu geben.
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Bevor ich selbst Kinder bekam, hörte ich mit sämtlichem Konsum auf, weil ich mich absolut weigerte, sie auch nur in die Nähe von Drogen zu bringen.

Mit 18 rauchte ich wegen meiner Depression und Ängste kurzzeitig Marihuana – auch, weil gefühlt alle meine Freund:innen kifften. Sie warfen sich auch Ecstasy und LSD ein; davor hatte ich dann aber doch zu viel Angst, weil ich selbst mitangesehen hatte, wohin das führen konnte. Bevor ich selbst Kinder bekam, hörte ich mit sämtlichem Konsum auf, weil ich mich absolut weigerte, sie auch nur in die Nähe von Drogen zu bringen. Ich rauche schon seit Jahren nicht mal mehr Zigaretten. 
All denjenigen, die Ähnliches durchmachen wie ich, möchte ich raten, ganz offen davon zu erzählen und sich Hilfe zu holen. Ich schluckte jahrelang einfach alles runter, bis der Druck irgendwann zu groß wurde. Ich erlitt schließlich einen enormen mentalen und emotionalen Zusammenbruch und hatte drei Wochen nach dem Tod meiner Mutter Suizidgedanken. Mein Dad hatte mir zuvor eingeredet, ich sei böse und wertlos – und ich wollte mich töten, obwohl ich zwei tolle Kinder und einen wundervollen Mann hatte, der mit mir schon mehr durchgemacht hat, als die meisten Menschen wohl ertragen würden. Fakt ist: Drogen beeinträchtigen die Kinder von Süchtigen – selbst dann, wenn die Kinder die Drogen nie auch nur anrühren. Für sie ist das Ganze umso schlimmer, weil sie nicht entkommen können. Mein Dad und meine Mum konnten sich etwas spritzen und die Welt um sie herum zeitweise vergessen. Ich wiederum konnte nicht fliehen – und die Realität ihrer Sucht verfolgt mich bis heute.
Wenn du der:die Angehörige einer süchtigen Person bist, findest du beispielsweise beim Blauen Kreuz oder beim Suchtportal Hilfe und Informationen.

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