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Hinter meiner extremen Dehnbarkeit steckte eine seltene Krankheit

Foto: Zaineb Abelque.
Die 35-jährige Ellie Hopkins wusste schon immer, dass sie außergewöhnlich dehnbar war, hatte sich dabei aber nie viel gedacht. „Ich dachte einfach, das sei normal. Ich dachte, alle bekämen einen Spagat hin oder könnten den Fuß bis zur Brust ziehen, um beim Schneiden der Zehennägel besser hinschauen zu können“, erzählt sie. Erst in ihren 20ern fing sie an, ihre ungewöhnliche Dehnbarkeit kritischer zu betrachten, als sie merkwürdige und scheinbar zusammenhangslose Symptome entwickelte.
„Ich hatte schon immer Muskel- und Gelenkschmerzen gehabt. Plötzlich kamen aber ein schlimmes Schwindelgefühl und Brustschmerzen dazu. Es fühlte sich dauernd so an, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Dazu kamen Magenprobleme und Ausschlag am ganzen Körper“, erinnert sie sich. „Außerdem kommt es bei mir regelmäßig zur Subluxation (eine teilweise Verrenkung der Gelenke). Selbst wenn ich bloß meinen Arm auf Schulterhöhe nach vorne ausstrecke, kann es passieren, dass ich mir dabei die Schulter ausrenke. Es kann demnach ziemlich riskant sein, mich morgens anzuziehen!“
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Ohne offensichtlichen Zusammenhang zwischen ihren diversen Symptomen dauerte es ungefähr vier Jahre, bis Ellie und ihre Ärzt:innen allmählich verstanden, was dahintersteckte. Daraufhin bekam sie eine lebensverändernde Diagnose – eine Dreierkombination aus komplexen und bisher wenig untersuchten chronischen Krankheiten: das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS), das posturale Tachykardie-Syndrom (PoTS), und das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS). Was das mit ihrer Flexibilität zu tun hat? Das ist ziemlich kompliziert.

Was ist das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS)? 

Fangen wir mal mit dem hEDS an, das vor allem für die Entwicklung von hypermobilen oder dehnbaren Gelenken, schwachem Gewebe und elastischer Haut bekannt ist. Diese Symptome sind aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, mit deren Hilfe Ärzt:innen anderen, weniger erkennbaren Symptomen auf die Spur gehen können. Wer vom hEDS betroffen ist, leidet nämlich vor allem unter diesen Symptomen – wie chronischen Schmerzen, dauernder Müdigkeit und Kopfweh.
„Die Ehlers-Danlos-Syndrome sind angeborene Bindegewebestörungen des Kollagens“, erklärt die Allgemeinmedizinerin, Forscherin und selbst von hEDS, POTS und MCAS Betroffene Dr. Emma Reinhold. Obwohl es 13 anerkannte Unterformen des EDS gibt, ist der hypermobile Typ (hEDS) von ihr und Ellie der am weitesten verbreitete und soll Untersuchungen zufolge sogar jeden 500. Menschen betreffen. Expert:innen – inklusive Dr. Reinhold – vermuten allerdings, dass das hEDS immer noch stark unterdiagnostiziert ist. In Wahrheit könnte das Syndrom somit noch deutlich verbreiteter sein als bisher angenommen.

Die womöglich größte Herausforderung – sowohl für Patient:innen als auch für ihre Ärzt:innen – ist die Tatsache, dass das medizinische Verständnis aller drei Krankheiten sehr begrenzt ist.

Obwohl du bei Kollagen vielleicht erstmal an Skincare und Anti-Aging denkst, spielt der Stoff in unserer alltäglichen Funktionsfähigkeit tatsächlich eine viel größere Rolle. Kollagen macht rund 30 Prozent des körpereigenen Proteins aus und ist der Hauptbestandteil des Bindegewebes, das unseren Körper zusammenhält – zum Beispiel in Form von Knochen, Bändern, Sehnen und Knorpel. Wenn das Kollagen also nicht widerstandsfähig genug ist, kann das demnach drastische Konsequenzen für den gesamten Körper haben.
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Das hEDS hat zahlreiche, sehr diverse und mitunter vage Symptome. Dadurch fällt vielen Allgemeinmediziner:innen die Diagnose schwer. Zu diesem Zweck hat Dr. Reinhold an einem „Toolkit“ mitgearbeitet, das Ärzt:innen bei der Diagnose helfen soll. Darin heißt es: „Wenn sich die Symptome nicht verbinden lassen, denken Sie ans Bindegewebe.“ Dennoch werden Patient:innen wie Ellie ihr zufolge erst lange von einer Fachpraxis zur nächsten weitergereicht, bis irgendjemand das hEDS verdächtigt.

Wo ist der Zusammenhang zwischen hEDS, MCAS und PoTS? 

Was alles noch komplizierter macht, sind die Hinweise darauf, dass das hEDS typischerweise mit anderen Syndromen einhergeht (bekannt als „Komorbidität“). Das gilt insbesondere, wie auch bei Ellie und Dr. Reinhold, für das MCAS (eine Immunerkrankung, bei der Zellen des körpereigenen Immunsystems fälschlicherweise Stoffe ausschütten, die für Entzündungsreaktionen sorgen), das PoTS (eine autonome Störung, bei der sich dein Puls sehr schnell beschleunigt, wenn du aus dem Sitzen oder Liegen aufstehst) und andere Dysfunktionen des autonomen Nervensystems.
Laut der Wohltätigkeitsorganisation PoTS UK entspricht etwa die Hälfte aller hEDS-Patient:innen auch den diagnostischen Kriterien für PoTS und umgekehrt. Eine kleine Studie von 2021, die 195 medizinische Krankenberichte untersuchte, fand außerdem Anzeichen für MCAS in einem Drittel aller Patient:innen mit hEDS und PoTS.
Die womöglich größte Herausforderung – sowohl für Patient:innen als auch für ihre Ärzt:innen – ist die Tatsache, dass das medizinische Verständnis aller drei Krankheiten sehr begrenzt ist. Forschende untersuchen erst seit relativ kurzer Zeit die Verbindung zwischen den drei Syndromen. Und obwohl Expert:innen wie Dr. Reinhold zwar ihre eigenen Theorien dazu haben, wissen wir noch immer nicht genau, wie oder wieso diese Syndrome einander beeinflussen. Dazu sind noch viele weitere Untersuchungen nötig.
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Bis es aber soweit ist, bedeutet das Leben der Betroffenen mit allen drei Syndromen zahlreiche alltägliche Herausforderungen. Das hEDS lässt sich bisher nämlich noch nicht medizinisch behandeln, weil die Forschung noch nicht weit genug ist. „Kollagen hat eine sehr komplexe Struktur und verändert sich durchgehend. Um 9 Uhr morgens sieht es daher vielleicht ganz anders aus als um 18 Uhr. Die Forschung steht noch ganz am Anfang, was die Kollagenproduktion angeht. Wir verstehen das noch nicht“, erklärt Dr. Reinhold.
Dabei ist dieses Verständnis die Voraussetzung für die Entwicklung einer Behandlungsmöglichkeit für hEDS. Laut Dr. Reinhold befassen sich damit bisher aber nur sehr wenige Forschende, und die finanziellen Mittel sind – wie in so vielen wissenschaftlichen Bereichen – knapp.
Die Symptome von PoTS und MCAS lassen sich allerdings sehr wohl mithilfe von Medikamenten und Lifestyle-Anpassungen bewältigen. Dazu sollen Betroffene beispielsweise so gut wie möglich eventuelle Trigger vermeiden. „Ich nehme Medikamente gegen das PoTS und das MCAS, habe aber auch meine Gewohnheiten geändert, um besser damit klarzukommen“, erklärt Ellie.
„Ich weiß zum Beispiel, dass mein MCAS heiße Tage und Sonnenschein überhaupt nicht mag. Die Hitze lässt außerdem meinen Blutdruck fallen, wodurch sich das PoTS verschlimmert. Der Sommer ist in meinem Fall ein echter Trigger für beide Syndrome. Deswegen versuche ich während dieser Monate, meinen Körper möglichst kühl zu halten, drinnen zu bleiben und viel zu trinken.“
Der 41-jährigen Programmiererin Amy* fällt es hingegen deutlich schwerer, ihre Schmerzen und Erschöpfung unter Kontrolle zu bekommen. „Ich muss sehr vorsichtig sein, was ich mache. Ich arbeite nur in Teilzeit, und wir planen unsere Woche so, dass ich nicht zu viel unternehme. Meine Symptome haben sich deutlich verbessert, seit ich gelernt habe, mir meine Kräfte besser einzuteilen. Dadurch ist mein Alltag aber natürlich auch sehr eingeschränkt“, erzählt sie.
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Sie und auch Ellie haben heute so starke Magenprobleme, dass sie seit Jahren intravenös ernährt werden. Amy zufolge hat ihr das, zusammen mit ihren Medikamenten, aber dabei geholfen, sich viele der Lebensmittelunverträglichkeiten zu ersparen, die das MCAS mit sich bringt.

Wieso bekommen vor allem Frauen die Diagnose hEDS, PoTS & MCAS?

Wie bei so vielen anderen komplexen und untererforschten Gesundheitsproblemen spielt das Geschlecht auch bei der hEDS/PoTS/MCAS-Kombination eine große Rolle. Frauen bekommen mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit die Diagnose hEDS. Eine Studie von 2019 ergab, dass 70 Prozent aller Patient:innen weiblich sind. Beim PoTS sind die Zahlen sogar noch eindeutiger: Mehr als 85 Prozent aller Patient:innen sind Frauen, und obwohl es zum MCAS weniger Daten gibt, lassen auch dort kleinere Studien und klinische Berichte vermuten, dass Frauen dreimal so häufig betroffen sind wie Männer.
Dr. Reinhold ergänzt: „Interessanterweise gehen wir davon aus, dass gleich viele Männer und Frauen das Gen bzw. die Gene für das hEDS in sich tragen. Verschiedene Faktoren – wie Infektionen oder ein Mangel an Mikronährstoffen wie Magnesium oder Vitamin D – können den Krankheitsverlauf einer Person aber verändern und beeinflussen, inwiefern sich das Syndrom auf das Individuum auswirkt.“
Als Beispiel erklärt sie: Wenn sich jemand mit COVID oder dem Epstein-Barr-Virus (verantwortlich für das Pfeiffersche Drüsenfieber) infiziert, hat diese Person danach vermutlich ein größeres Risiko, eine chronische Krankheit wie Long COVID oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) zu entwickeln, wenn sie gleichzeitig genetisch für das hEDS veranlagt sind. Genauso kann auch jede Infektion überaktive Mastzellen triggern oder Autoimmunreaktionen auslösen, wenn man für die drei Syndrome anfällig ist.
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Ich hatte starke Muskel- und Gelenkschmerzen. Dann, mit 16, reagierte ich plötzlich allergisch auf all meine Hygiene- und Kosmetikprodukte. Jedes Mal, wenn ich ein Shampoo oder so benutzte, hatte ich danach großen, grellroten Ausschlag, der extrem juckte.

Isaac, 31
Bei dem zahlenmäßigen Unterschied in der Geschlechterverteilung des hEDS spielen vor allem die Hormone eine große Rolle. „Testosteron festigt das Bindegewebe, baut Muskelmasse auf und stabilisiert die Mastzellen. Östrogen hingegen lockert das Bindegewebe, und Progesteron – vor allem Schwankungen im Progesteronspiegel – destabilisiert die Mastzellen“, erklärt Dr. Reinhold.
„Bei Jungen, oder Menschen, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugeordnet wurde, legen sich die Symptome meist mit dem Einsetzen der Pubertät und der damit verbundenen Hormonausschüttung. Sie gehen somit nicht zum Arzt oder zur Ärztin, um sich eine Diagnose einzuholen, weil ihnen ihr Syndrom keine Beschwerden bereitet. Bei Mädchen, oder bei der Geburt als weiblich gelesenen Menschen, verstärken sich die Symptome mit Beginn der Pubertät eher noch. Rund um ihre Periode und während der Schwangerschaft verschlimmern sich die Beschwerden typischerweise“, ergänzt sie.
Untersuchungen zufolge sind Frauen mit hEDS außerdem überproportional von gynäkologischen Problemen betroffen. Dazu zählen vor allem besonders heftige, schmerzhafte Blutungen während der Periode. „Ich vermute, das liegt insbesondere an hyperaktiven Mastzellen, die durch entzündliche Prozesse der Menstruation getriggert werden und völlig überreagieren, anstatt die Entzündung zu kontrollieren“, erklärt Dr. Reinhold weiter.
Der 31-jährige Isaac Marsh ist trans. Er bekam die Diagnose hEDS/PoTS/MCAS vor zwei Jahren, leidet aber schon seit seiner Jugend unter den Symptomen. „Ich war als Kind extrem dehnbar. Mit Anfang der Pubertät wurden einige der Symptome der drei Krankheiten deutlicher erkennbar, obwohl mir damals nicht klar war, womit sie zusammenhängen“, erzählt er.
„Ich hatte starke Muskel- und Gelenkschmerzen. Dann, mit 16, reagierte ich plötzlich allergisch auf all meine Hygiene- und Kosmetikprodukte. Jedes Mal, wenn ich ein Shampoo oder so benutzte, hatte ich danach großen, grellroten Ausschlag, der extrem juckte“, sagt er.
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In seinem zweiten Studienjahr hatte Isaac dann zusätzlich mit Schwindel und Ohnmacht zu kämpfen, manchmal bis zu 20-mal am Tag, sowie mit allergischen Reaktionen auf willkürliche Lebensmittel. Das führte dazu, dass er seine Ernährung drastisch einschränkte.
Vor allem die Menstruation war für ihn ein großes Problem, erzählt er weiter. „Vor meiner Transition hatte ich echt schlimme Perioden. Mir ging es dann immer besonders schlecht, und ich hatte häufiger allergische Reaktionen. Ich bekam jeden Monat Fieber und hatte das Gefühl, eine richtig dicke Grippe zu haben. Meine Ärzt:innen meinten zu mir, es sei, als würde mein Körper glauben, er hätte eine starke Infektion. Dabei hatte ich ja einfach nur meine Tage.“
Als er seine Transition begann, hatte Isaac immer noch keine Diagnose bekommen und wusste nichts über hEDS, PoTS oder MCAS. Für ihn war es demnach eine unerwartete Nebenwirkung, als er – wie Dr. Reinhold schon beschrieb – eine große Veränderung hinsichtlich seiner Symptome bemerkte, sobald er mit der Testosteroneinnahme begann.
„Die Transition war für mich echt unglaublich. Abgesehen von den offensichtlichen emotionalen Aspekten fühlte ich mich außerdem wie ein Superheld, weil ich plötzlich wieder alles tun konnte. Mein PoTS wurde besser, ich hatte jede Menge Energie, konnte alles essen, was ich wollte, und Sport treiben, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Es kam mir vor wie ein Wunder“, sagt er.
Auch für Amy und Ellie brachte eine Hormonbehandlung eine deutliche Verbesserung der Symptome. Amy begann mit der Einnahme der Kombipille, Ellie bekam ein Hormonimplantat und nahm die Minipille. „Ich nehme jetzt seit 20 Jahren die Pille, und jeder Versuch, sie abzusetzen, hat meine Schmerzen und Verdauungsprobleme verschlimmert. Was auch immer mit mir los ist, hat demnach eindeutig auch hormonelle Gründe“, meint Amy.
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Diese Behandlung funktioniert deswegen, weil sie den Hormonspiegel im Laufe des Monats stabilisiert, erklärt Dr. Reinhold. Betroffene vom hEDS scheinen nämlich besonders empfindlich auf Schwankungen des Hormons Progesteron zu reagieren. Wie so oft bei Hormonbehandlungen eignet sich diese Therapieform aber nicht für jede:n.
In Isaacs Fall kehrten viele seiner Symptome später leider wieder zurück. Daraufhin bekam er nach einem Jahr seine Diagnose. Heute nimmt er eine Kombination von Antihistaminika ein, um sein MCAS zu bewältigen. Ihm zufolge war das Testosteron aber eindeutig die effektivste Behandlung für ihn.
„Ich bin froh darüber, trans zu sein – es hat mir nämlich unter anderem gegen meine Symptome geholfen. Wenn ich aber mit betroffenen cis Frauen darüber rede, die immer noch so stark darunter leiden, tut mir das total leid“, sagt er. „Ich wünsche mir so sehr, dass die Forschung uns allen besser hilft.“
Bis dahin hofft Amy auf ein stärkeres Bewusstsein für diese drei Syndrome, um gegen ihre Stigmatisierung anzugehen. „Weil wir nicht wissen, was der Auslöser für hEDS, PoTS oder MCAS ist, glauben manche Ärzt:innen meiner Meinung nach, diese Syndrome seien nicht echt – selbst, wenn sie es eindeutig sind. Die Medizin muss noch viel besser darin werden, einfach mal zuzugeben, dass sie manches noch nicht weiß.“
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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