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Saisonale Depression: Wenn die Hälfte des Jahres an eine Krankheit verloren geht

Foto: Aslan Eylul.
Seit ich denken kann, hat mir der Winter ordentlich zugesetzt. Die Tristesse und das graue Licht, gepaart mit nassen Straßenzügen, Matsch und mürrisch dreinblickenden Passanten. Damals hieß es allerdings bloß „Das Kind kann sich ja so toll selbst beschäftigen!”, weil ich mich in dieser Jahreszeit wochenlang in mein Kinderzimmer zurückzog, um traurig und alleine Kassetten zu hören. Ich tat nichts, als in eine Wolldecke eingekauert, vor der Heizung zu sitzen und zu weinen. Da haben es sich meine Eltern ganz schön leicht gemacht, würde ich heute wohl meinen. Aber wen klage ich hier eigentlich an?
Dieser Zustand, in dem es sich anfühlt, als sehe man die Welt nur noch durch Milchglas, hält mehrere Monate an und wird nur von kurzen Momenten unterbrochen, in denen sich das Licht ändert und alles gleißend hell wird, weil es ausnahmsweise mal geschneit hat. Als ob die Sonne einem kurz die mutmachende Hand reicht, nur um einen dann, nach ein oder zwei Tagen des Glücks, wieder in ein tiefes Loch fallen zu lassen, weil sie angeblich gerade woanders zu tun hat.
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Dieser Zustand, in dem es sich anfühlt, als sehe man die Welt nur noch durch Milchglas, hält mehrere Monate an

Aber wie fühlt es sich wirklich an, wenn man die Hälfte des Jahres unter Depressionen leidet? Ich kann mit meiner Diagnose (saisonal-affektive Störung SAD) eigentlich ganz gut leben, zumindest die Hälfte des Jahres. Die andere Hälfte findet eher im Untergrund statt.
Ich glaube, Depressionen zu beschreiben, fällt allen Betroffenen schwer und weil es nicht das eine, ultimative Bild der Krankheit gibt, merkt man oft jahrelang nicht, dass man erkrankt ist. Depression hat so viele Gesichter, von denen manche traurig, andere wütend, oder einige ganz still und stoisch sind. Einige Betroffene weinen viel und wieder andere bemerken nicht einmal, dass sie eine Depression haben, weil sie einfach den ganzen Winter über schlafen, und wenn sie wach sind, schlafen sie irgendwie auch. Außerdem herrscht überall noch der Irrglaube, dass man wirklich 24/7 nicht lachen kann und nur noch niedergeschlagen ist, was völliger Unfug ist.

Depression hat so viele Gesichter, von denen manche traurig, andere wütend, oder einige ganz still und stoisch sind

Ich habe während meiner Depression eher mit Wut zu kämpfen und insbesondere mit einer Essstörung, die mich schon ordentlich Nerven gekostet hat. Essen scheint in diesen Phasen das einzige zu sein, das mir Halt geben kann. Irgendwie verliere ich meine Connection zur Welt und gesunde Menschen finden an mir keinen Anknüpfungspunkt. Ich bin eher der Rückzugsmensch, ein echter Katzentyp, der sich zurückzieht, wenn er krank ist und nach außen hin vermittelt, dass alles ganz dufte läuft, damit niemand nachfragt. Solange keiner nachhakt, kann man passioniert verdrängen, und was an Verdrängen schlecht sein soll, muss mir erstmal jemand glaubhaft weismachen. Also habe ich meinen beruhigenden Mampf und fahre soziale Kontakte auf ein absolutes Minimum runter. Das ist einerseits ein Fluch, aber andererseits auch ein Segen, denn immerhin halte ich mich so vor schädigenden Selbsthilfeversuchen, wie Alkohol, Drogen oder Suizidgedanken, fern. Ich fülle meine Leere bevorzugt mit Nahrung. Das mache ich geplant, denn ich liebe es etwas zu tun zu haben, in dem ich nicht versagen kann. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
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Die Symptome der saisonalen Depression unterscheiden sich von denen einer “regulären” Depression in einigen wesentlichen Punkten: Patienten benennen Müdigkeit, Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit und einen gesteigerten Appetit als Hauptsymptome. Die Symptome müssen außerdem mindestens in den letzten beiden Jahren aufgetreten sein. Dieses Krankheitsbild zeichnet sich also durch die konstante Wiederkehr der Symptome aus. Betroffen sind etwa 2% aller Erwachsenen im mitteleuropäischen Raum. Bevorzugt Frauen, bei denen die saisonale Form etwa vier Mal so häufig auftritt. Als Ursache für diese Sonderform der affektiven Störung gilt, dass die Tage zum Ende des Jahres hin kürzer werden und sich so ein Lichtmangel einstellt, der dafür sorgt, dass im Körper weniger Serotonin und Melatonin gebildet werden. Im Unterschied dazu ist die saisonal unabhängige Depression eher mit fehlendem Appetit, Gewichtsverlust und Schlafmangel in Verbindung zu bringen. Klingt auch nicht verlockend, wenn ich ehrlich bin.
Foto: Aslan Eylul.
Während der drei oder vier Monate, in denen meine Depression jedes verdammte Jahr im Herbst und Winter wieder voll reincrasht, bin ich eine komplett veränderte Person. Die Gedankengänge sind anders und von Selbstzweifeln und Pessimismus zerfressen, der sich nach außen mit Wut entlädt. Ich bewerte Dinge aus einer vollkommen anderen Sichtweise und ich werde unglaublich faul. So faul, dass mein Sommer-Frühlings-Ich es einfach nicht fassen kann. Im Sommer fehlt mir komplett die Empathie für die Person, die ich im Winter bin. Ich verstehe mein Verhalten während der Depression dann zwar rational, aber es fühlt sich so fern ab von mir an, als wäre eine weitere Person involviert. Dann fühle ich mich eher wie einer der Menschen, die nicht an Depressionen erkrankt sind und es nicht nachvollziehen können, wie jemand, dem es eigentlich so gut geht, so mutlos und verzweifelt sein kann. Schließlich habe ich ja alles, inklusive dem Wissen was mit mir los ist und wie ich mir selber helfen könnte.
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Im Sommer fehlt mir komplett die Empathie für die Person, die ich im Winter bin. Ich verstehe mein Verhalten während der Depression dann zwar rational, aber es fühlt sich so fern ab von mir an, als wäre eine weitere Person involviert

Ich weiß auch im Winter sehr genau, dass es mir um Längen besser geht, wenn ich Sport mache und meine Tagespflicht erfülle und den Spaziergang von einer Stunde absolviere, den die Therapeutin mir dringend ans Herz gelegt hat. Ich kenne die Hilfen, bin aber zu kraftlos um zuzulassen, dass ich mir selbst helfe, damit es mir besser gehen könnte. Deswegen fühle ich mich meist dann noch schlechter, als hätte ich einen Personal Trainer, der mich schon am Morgen anschreit, dass ich heute auf keinen Fall meine Ziele erreichen werde und dass meine Bemühungen natürlich (wieder mal) umsonst sind. Ich solle also lieber gleich im Bett liegen bleiben.
Irgendwann im September kommen jedes Jahr die ersten depressiven Gedanken, was sehr verstörend ist, wenn man die meiste Zeit noch positive Gedankengänge hat. Man kann dann einige Zeit beobachten, wie ein kognitiver Kampf in einem ausgetragen wird. Diese Zeit ist für mich die Unentspannteste überhaupt, weil ich dann am meisten mit Wut und Selbsthass kämpfe und sehr wohl weiß, was demnächst ansteht. Ich spoiler mich quasi selbst. Man sitzt auf dem Sofa und plötzlich hat man keine Lust mehr Routinen durchzuführen und hasst sich zugleich dafür. Dann kommt die Wut. Irgendwann bin ich dann wieder gut zu mir und beruhige mich mit Essen. Ich habe mich abgefunden. Dann ist das Gröbste der Depression für mich durch. Mit dem Zunehmen habe ich mich arrangiert, die Wohnung ist etwas unaufgeräumter während der Depression, die Arbeit häuft sich, ich nehme keiner Termine mehr wahr, ich bin wie aus der Welt. Nur das Sofa schwimmt wie eine Rettungsinsel vor mir. Aber es scheint, als würde das Sitzmöbel als Treibstoff ausschließlich Nahrung benötigen, sonst bewegt es sich gefühlt nicht weiter, sondern bleibt stehen und man müsste nachdenken. Das wäre blöd.
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Diese Zeit ist für mich die Unentspannteste überhaupt, weil ich dann am meisten mit Wut und Selbsthass kämpfe und sehr wohl weiß, was demnächst ansteht. Ich spoiler mich quasi selbst

Während einer depressiven Phase dominieren kurzfristige über langfristige Entscheidungen. Es geht einzig und alleine darum, jeden einzelnen Tag zu überleben und sich kurzfristig besser zu fühlen. Was mit deinem Körper passiert, ist dir in diesem Moment vollkommen egal. Snack um Snack. Schon wieder 24h rum. Morgen geht es weiter. Um 22 Uhr ins Bett gehen. Bis 12 Uhr schlafen. Im Biosupermarkt Schokomilch, ein Kilo-Glas Samba und zwei Packungen Aufbackcroissants kaufen. Irgendwas wird auf Netflix schon kommen. Und so ist es dann auch. Vier Monate lang.
Foto: Aslan Eylul.
Meine Taktik beim Essen: Ich versuche nie länger als zwei Stunden zwischen zwei Snacks vergehen zu lassen, damit ich nicht so viel zum Nachdenken komme. Es kam außerdem auch schon mal vor, dass der Pizzalieferdienst zwei Mal am Tag geklingelt hat. Ich halte eben die Wirtschaft am laufen, sage ich mir dann, aber im Grunde schämt man sich dafür, besonders im Sommer, wenn das Verdrängen aufgehört hat und man zwanzig Kilo mehr auf die Waage bringt. Aber auch das geht irgendwie schon klar, denn Lebensmittel fordern nichts, sondern geben dir nur: Zucker, Fett, Kalorien, Kalorien, Kalorien. Süße Limonaden. Cola. Tiefkühlpizza Lifestyle. Es fließen unnötige Summen, rückblickend betrachtet. Wenn dann der Frühling kommt ist man ärmer, weil man in den letzten Monaten einerseits extrem wenig gearbeitet und sich andererseits jeden Tag neapolitanische Pizza mit Burrata beim Hipster Italiener gegönnt hat.

Im Biosupermarkt Schokomilch, ein Kilo-Glas Samba und zwei Packungen Aufbackcroissants kaufen. Irgendwas wird auf Netflix schon kommen. Und so ist es dann auch. Vier Monate lang

Ich habe einen vollkommen abgedrehten Kleiderschrank mit einzelnen IKEA Kisten, die nach Kleidungsgrößen sortiert sind. Dort findet man von M bis 3XL alles, denn mein Gewicht schwankt natürlich mit. Innerhalb nur weniger Monate. Dadurch kennzeichnet man sich doppelt als “jemand mit Problemen” und verstört Freunde und Familie mit seinem ständig wechselnden Look. Diese Art der Depression ist leider alles andere als unsichtbar. Nicht dass ihr mich falsch versteht, für mich ist dieser Gewichtswechsel selbstverständlich und Teil meines Selbstbildes seit ich 16 bin. Ebenso die Tatsache, dass ich im Sommer einfach voller Lebensfreude bin und einen aktiven Lifestyle habe. Dann macht mit Sport großen Spaß und ich erledige alles mit dem Fahrrad. Ich hole das Arbeitspensum vom Winter nach und arbeite bei Weitem mehr als acht Stunden am Tag. Der Speck verliert sich ohne Anstrengung von alleine. Darf man auch keinem erzählen! Irgendwann passt man dann wieder in die M Klamotten, aber dann ist auch schon wieder September und alles beginnt von vorne.
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In meiner Verhaltenstherapie habe ich gelernt, diese Schwankungen hinzunehmen und nur die langfristig ungünstigen Folgen etwas abzudämpfen. Dazu sind tägliche Routinen wichtig, wie ein regelmäßiger Spaziergang, ein oder zwei Stunden produktive Arbeit am Tag, Mails immer direkt beantworten, sich fest eingeplant etwas Gutes tun, sowie viel Entspannung und stimulierende Ruhe in den Tagesablauf einbinden. Das letzte Jahr war dann die Depression zum ersten Mal merklich milder und ich fühlte sowas wie Zuversicht.
Tipps:
Unterstützt betroffenen Freunde, indem ihr Zeit mit ihnen verbringt und niedrigschwellige Dinge zusammen tut (Fernsehen, Musik hören, Kochen)!
Wenn ihr selbst betroffen seid: Kauft eine Lampe für Lichttherapie und investiert dreißig Minuten täglich dafür!
Geht raus! Jeden Tag einen kleinen Spaziergang.
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Sucht euch in Krisensituationen Hilfe! Dazu findet ihr unten zwei Links!
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