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Gibt es so etwas wie „emotionale Unverfügbarkeit“?

Foto: Rochelle Brock
Der Ausdruck „emotional nicht verfügbar“ kann sich wie eine abweisende Ausrede einer Person anhören, die in Wahrheit einfach keine Beziehung eingehen möchte; eine Alternative zu „Es liegt nicht an dir, sondern an mir“ oder „Ich tue mir schwer mit Beziehungen“. Wenn diese Formulierung aber auch etwas vage ist, kann emotionale Unverfügbarkeit für manche Menschen tatsächlich ein triftiger Grund sein, sich vor einer Bindung zu fürchten und sich in einer Beziehung nicht verletzlich geben zu wollen bzw. können.
Emotional nicht verfügbar zu sein, bedeutet im Grunde, dass eine Person immer auf der Lauer liegt und sich nie wirklich fallen lässt. Das tut sie aus Angst vor dem, was passieren könnte, nachdem sie mit jemandem intim geworden ist und ihre verletzliche Seite gezeigt hat, erklärt Therapeut und Assistenzuniversitätslehrkraft an der Columbia University Jeremy Ortman. „Von außen betrachtet mag Intimität möglicherweise kaum bedrohlich erscheinen, aber für diejenigen, die emotional nicht verfügbar sind, stellt sie innerlich eine Gefahr dar“, sagt Ortman. „Die Aussicht, jemandem nahe zu kommen, ist für sie so, als stünden sie am Rande eines dunklen Abgrunds: Der Körper ist in Alarmbereitschaft, und die Person fragt sich, ob es sich lohnt, den Sprung zu wagen.“
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Woher kommt also diese Angst? In unserer Kindheit und unseren Teenie-Jahren erfahren wir, ob unsere emotionalen Bedürfnisse von den Menschen um uns herum erfüllt werden oder nicht, sagt Ortman. Wenn dir deine Familie ständig das Gefühl vermittelte, dass deine Gedanken und Gefühle nicht wichtig oder berechtigt seien, oder du immer ignoriert oder kritisiert wurdest, kann das „dazu führen, dass du dich als Erwachsene:r davor hütest, dich zu öffnen und emotionale Nähe zuzulassen“, sagt er. Deine Familie hat dir vielleicht nicht vorgelebt, wie du Emotionen ausdrücken oder mit Intimität umgehen kannst, weshalb sich Beziehungen später unangenehm oder sogar beängstigend anfühlen können. Eine negative Erfahrung mit einem oder einer Ex, der oder die deine Gefühle nicht respektierte, können ebenfalls zu emotionaler Unverfügbarkeit führen, sagt er.

Menschen, die mit emotionaler Verfügbarkeit zu kämpfen haben, neigen dazu, zu ghosten, wenn es einen Konflikt gibt oder Interaktionen zu intensiv werden.

Jeremy Ortman, Therapeut und Assistenzlehrkraft an der Columbia University
Es gibt einige eindeutige Anzeichen dafür, dass jemand nicht emotional verfügbar ist, so Ortman. Zum Beispiel kann es vorkommen, dass eine Person zu Beginn einer Beziehung umgänglich und mitteilsam ist und sich wirklich auf ihr Gegenüber einlässt, sich dann aber plötzlich zurückzieht, wenn die Partnerschaft ernster zu werden scheint, sagt er. „Diese unterschiedlichen Signale werden nicht immer bewusst ausgesandt. Nichtsdestotrotz haben sie Konsequenzen, weil sie bei Partner:innen für Verwirrung sorgen.“
Andere Menschen wiederum haben einfach im Allgemeinen Angst davor, über ihre Gefühle zu sprechen, egal ob sie „gut“ oder „schlecht“ sind, sagt Ortman. Es kann beängstigend sein, den Satz „Ich liebe dich“ zu äußern oder auch nur jemanden als deine „bessere Hälfte“ zu bezeichnen. „Menschen, die mit emotionaler Verfügbarkeit zu kämpfen haben, neigen dazu, zu ghosten, wenn es einen Konflikt gibt oder Interaktionen zu intensiv werden“, sagt er. „Dieses Verhalten ist eine Form von Selbstregulierung; sich zurückzuziehen ist ein indirekter Ausdruck einer Grenze, ohne ausdrücklich um Freiraum zu bitten.“
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In bestimmten Fällen greifen Menschen, die emotional nicht verfügbar sind, auf Alkohol, Drogen oder Sex zurück, um ihre Gefühle zu unterdrücken, sagt Ortman. „Wenn Gefühle auf diese Weise betäubt werden sollen oder Emotionen nur unter Drogen- oder Alkoholeinfluss ausgedrückt werden können, kann das die Kommunikation zwischen dir und der anderen Person beeinträchtigen“, sagt er. Manchmal stimmen auch die Worte und Taten einer Person einfach nicht überein: „Ein:e Partner:in sagt, dass die andere Person ihm oder ihr am Herzen liegt, verhält sich dann aber lieblos", sagt er. „In manchen Fällen hat dieses Verhaltensmuster mit zugrunder Scham zu tun, weil jemand Angst davor hat, unbeholfen rüberzukommen, und deshalb das Gegenüber nicht mehr an sich heranlässt.
Die gute Nachricht ist, dass es möglich ist, „emotional zugänglicher“ zu werden. Dazu muss die Person in Frage sich aber bewusst dazu entscheiden, neue Verhaltensweisen auszuprobieren, sagt Ortman. Zu Beginn kann es hilfreich sein, die eigenen Tendenzen, sich zu verschließen oder emotionale Offenheit zu vermeiden, zu erkennen und darüber nachzudenken, ob sie deinen Beziehungen helfen oder schaden. „Manchmal müssen wir unseren Abwehrmechanismen dafür danken, was sie bisher für uns geleistet haben, und sie dann auffordern, Platz für etwas Neues zu machen“, sagt er.
Du solltest in der Lage sein, die Bandbreite der Gefühle, die du empfindest, klar zu erkennen und zu benennen. Das kann für viele Menschen eine Herausforderung sein, sagt Ortman. „Der Schlüssel dazu, emotional zugänglicher zu werden, ist es, ein Bewusstsein für die eigenen Gefühle zu entwickeln. Zu diesem Zweck solltest du zunächst probieren, wahrzunehmen, wie sie im Körper entstehen, und dann versuchen, die Emotion zu identifizieren und zu kategorisieren. Er empfiehlt, ein Tagebuch zu führen, darüber zu sprechen oder zu meditieren, um den Sinn deiner Gefühlen zu verstehen. Emotionen liefern uns wichtige Informationen über unsere Bedürfnisse. Wenn du also deine eigenen verstehst, kannst du sie auch deiner besseren Hälfte deutlich mitteilen.
Es kann frustrierend sein, mit jemandem zusammen zu sein, der sagt, er sei emotional nicht verfügbar. Wenn eine Person aber wirklich keine Beziehung will, ist das eine berechtigte Entscheidung, die du respektieren solltest, sagt Ortman. „Es sind die Momente, in denen die Absichten und Handlungen einer Person nicht übereinstimmen, die einen zweiten Blick verdienen“, sagt er. Wenn jemand zum Beispiel sagt, dass er eine Beziehung führen will, diesem Wunsch aber nicht nachgehen kann, weil er emotional nicht verfügbar ist, lohnt es sich, ihn zu fragen, ob er möglicherweise etwas daran ändern möchte.
„Viele von uns wünschen sich bedeutsame und intime Beziehungen, aber für manche Menschen sind diese mit der Angst verbunden, verletzt oder zurückgewiesen zu werden“, sagt Ortman. Wenn du deine bessere Hälfte daran erinnerst, dass sie ihre Gefühle bei dir auf sichere Weise ausdrücken kann, ist das ein Schritt in die richtige Richtung, um eine Beziehung aufzubauen, die von Dauer sein und auf Intimität basieren wird, sagt er. Würden du dir nicht auch die gleiche Art von Offenheit und Sicherheit von Seiten deines Partners oder deiner Partnerin wünschen?

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