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Mein Leben ist total langweilig, aber ich könnte nicht glücklicher sein

Foto: L'Oreal Blackett.
Ich bin aktuell langweiliger, als ich in meinem ganzen Leben bisher war. Vor ein paar Tagen habe ich mir ein einstündiges Video angeschaut, in dem ein Mittsechziger-Pärchen davon erzählte, wie erfüllend ein sparsames Leben sein kann. Danach erstellte ich eine Excel-Tabelle. Es war Freitagabend. Mein früher so intensives Sozialleben besteht heute aus zwei Buchclubs und drei Streaming-Abos. Ich habe viel weniger Freundschaften, und habe viele der Dinge, die ich früher aufregend und unterhaltsam fand, aus meinem Leben gestrichen. 
Ich poste momentan nur noch ganz selten was bei Instagram, weil… naja, hier gibt es eben nicht viel zu sehen. In dieser aktuellen Ausgabe von „L’Oréal Blackett“ passiert außerhalb der Arbeit und meinen Erwachsenenpflichten nämlich meistens nichts. Und mir ist langweilig – so, so langweilig. Das hier ist aber kein Hilfeschrei. Wie einem Kind, das zu aufgeregt ist, um still zu sitzen, wurde nämlich auch mir dazu geraten (um nicht zu sagen: Ich wurde eindringlich dazu aufgefordert), mich mal dieser mir unbekannten Langeweile hinzugeben, um mir – meinem Körper, meinem Geist, meiner Seele und meinen Finanzen – eine dringend nötige Pause zu gönnen.
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An dieser Stelle möchte ich betonen, dass ich nicht schon immer so langweilig war. (Eigentlich kann man mit mir wirklich Spaß haben, versprochen!) Seit meiner Jugend war ich immer auf der Suche nach (völlig legalen) Erfahrungen, von denen ich anderen danach erzählen konnte. (So habe ich mich zum Beispiel schon für mindestens drei Reality-TV-Shows beworben – denn warum auch nicht?) Ich mag es – nein, ich liebe es –, Pläne zu schmieden. Meine Karriere in den Medien, und all die Absurditäten und Event-Einladungen, die damit verbunden sind, hat mir im Laufe der Jahre jede Menge lustige Anekdoten zum Weitererzählen eingebracht, und ich habe es immer genossen, viel zu viele Ziele und Träume zu haben, um es auch mal ruhiger angehen zu lassen.
Denn ehrlich gesagt klingt es für mich als Frau mit Anfang 30 ziemlich furchteinflößend, es „ruhiger angehen zu lassen“. Schließlich klingt es danach, als müsste ich mich von vielen Dingen lösen, die früher für mich zum Leben dazugehörten (werde ich je wieder einen dröhnend lauten Club betreten? Wer weiß). Genau solche Ängste spuken mir an extrem langweiligen Freitagabenden durch den Kopf. Dann rede ich mir aber gut zu, dass diese Phase der Langeweile ja einen bestimmten Zweck verfolgt, und dass sie nur vorübergehend ist – wenn ich das denn will.

Für viele von uns hat es schon fast etwas Schambelastetes, zuzugeben, dass wir gelangweilt sind. Genau deswegen habe ich meine Zeit früher immer produktiv gefüllt, wenn ich nicht gerade verabredet oder bei der Arbeit war.

Tatsächlich wurde mir die Langeweile als Heilmittel gegen viele meiner größten Belastungen empfohlen: gegen Burnout, gegen Stress, gegen das Gefühl der Überforderung, gegen meinen geringen Selbstwert. „Was, wenn Sie – anstatt einen weiteren intensiven Sportkurs zu machen, ein neues Projekt anzufangen oder Ihren Kalender mit Afterwork-Events vollzustopfen – einfach mal eine Weile lang gar nichts machen?“, empfahl mir vor ein paar Monaten eine psychiatrische Krankenpflegerin. Als mein Burnout nämlich besonders schlimm wurde und sich jetzt auch Symptome wie innere Unruhe, schnelle Gewichtszunahme, Depressionen und Panikattacken dazugesellt hatten, suchte ich mir Hilfe.
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Ich war zwar völlig ausgebrannt, versuchte mein Leben aber weiterhin so durchzuziehen, als sei alles okay. Die Expert:innen machten mir aber schnell klar: Meine ehrgeizigen Versuche, alles beim Alten zu behalten, waren zwar bewundernswert, doch würde es meiner Unruhe und meinem Stress doch deutlich besser tun, wenn ich alles vorübergehend mal pausierte. Ganz egal, wie stark ich mich dabei langweilen würde. 
„Ich glaube, dass bestimmte Burnout-Anfälle dazu dienen sollen, dich wieder in die richtigen Bahnen zu lenken, indem sie dich dazu zwingen, auch mal eine Pause einzulegen“, schreibt die Autorin Emma Gannon in ihrem beliebten Newsletter „The Hyphen“. Die emotionale Erschöpfung, die sie empfand, bezeichnet sie als „existenzielles Burnout“. Diese Art von Burnout ist meist die Folge eines „Zusammenbruchs der Identität“, der dazu führt, dass Leute ihr aktuelles Leben hinterfragen. Gannon erklärt: „Diese Form von Zusammenbruch ist quasi der Versuch deines Lebens, dir zu sagen: Die Art, wie du momentan lebst, funktioniert so nicht.“
Viele Forschende und Psychotherapeut:innen haben bereits den positiven Einfluss regelmäßiger Phasen der Langeweile bestätigt – vor allem auf die überstimulierten, impulsiven und unruhigen Geister des digitalen Zeitalters. „Manche Studien lassen vermuten, dass Langeweile sogar die Kreativität anregen kann. Wenn Menschen gelangweilt sind, suchen sie sich eher neue und stimulierende Beschäftigungen, die das kreative Denken anregen können“, erklärt die Psychologin Dr. Jenna Vyas-Lee.  „Langeweile kann eine Chance zur Selbstreflexion sein und dich dazu ermutigen, über deine Ziele, Interessen und Werte nachzudenken. Das wiederum kann zur persönlichen Weiterentwicklung führen.“
Obwohl Psychotherapeut:innen zwar auch anerkennen, dass Langeweile unglücklich machen kann – und mit Problemen der Selbstkontrolle einhergehen kann, wie Spiel- oder Drogensucht oder Essattacken –, sind doch einige Expert:innen der Meinung, Langeweile könne sich auch positiv auf die geistige Gesundheit auswirken, die Kreativität steigern und sogar ein neues Gefühl der Konzentration und Zielstrebigkeit verleihen. Psychotherapeut:innen wie Louis Laves-Webb bieten daher sogar „Langeweile-Therapien“ an, um „die Selbstreflexion zu stärken“ und „Selbstlosigkeit und Dankbarkeit zu fördern“. Dabei geht es nämlich darum, dich mit deinen tiefsten Gedanken auseinanderzusetzen – denn alles, was du tust, ist denken.
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Die Psychologin Dr. Sandi Mann, Autorin des Buchs The Science of Boredom: The Upside (and Downside) of Downtime, erzählte gegenüber BBC Science Focus, sie sei „überzeugt von der positiven Wirkung davon, jeden Tag ausreichend gelangweilt zu sein“. In ihrem Buch behauptet Mann, wir seien in unserem digitalen Zeitalter und seinem Zugang zu so vielen Formen der Unterhaltung nicht oft genug gelangweilt, was zu extremen Verhaltensformen führen könne.
„In unserem aktuellen Informationszeitalter sind wir durchgehend der Technologie ausgesetzt und haben so vielfältige Optionen, unsere Freizeit zu verbringen, dass wir eigentlich nie erfahren müssten, wie sich Langeweile eigentlich anfühlt“, schreibt Mann. „Dennoch ist die Langeweile im Kommen. Es scheint, dass wir uns nach immer mehr Stimulation sehnen, je mehr wir stimuliert werden. Um uns von unserer Langeweile zu befreien, gehen wir teilweise gefährliche Risiken ein – von Extremsportarten über Drogen bis hin zum Glücksspiel und antisozialem Verhalten. Oder aber wir shoppen oder essen zu viel, um unsere Zeit zu füllen.“
Unsere Gesellschaft ist abhängig vom Dopamin: Ich selbst brauche immer wieder Input – in Form von Netflix oder Social Media –, um weitere Glückshormone zu tanken. Unsere Beziehung zu den sozialen Medien wird auch immer mehr zur Sucht: Wir sehnen uns danach, gesehen zu werden und Anerkennung von anderen zu erfahren. Für diejenigen von uns, die chronisch online sind, ist Langeweile eine echte Qual. Denn wenn du gerade nichts postest, könnten andere ja denken, du hättest nichts Besseres zu tun, als dich durchs Handy zu scrollen. 
Obwohl es demnach kontraintuitiv wirkt, meint Mann, das „Problem der Langeweile“ ließe sich am besten beheben, indem man sie nutzt, anstatt sie zu verdrängen. „Es kann dein Leben bereichern, dir auch mal Zeit ohne jegliche Stimulation zu gönnen. Wir sollten uns unserer Langeweile deswegen auch mal hingeben und sehen, wie sie uns hilft.“ 
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Ich würde lügen, wenn ich jetzt behaupten würde, es hätte mir Spaß gemacht, auch mal länger gelangweilt zu sein. Trotzdem hörte ich dabei mehr in mich hinein, als ich es sonst zulasse. Als ich immer mehr leere Wochenenden hinter mich brachte, fühlte ich mich irgendwann nicht mehr niedergeschlagen, einsam und neidisch (ich weinte auch viel), sondern freute mich stattdessen auf all die Pläne, die ich in Zukunft schmieden würde.
Viele Psychotherapeut:innen sind der Meinung, lange Phasen der Langeweile können dir sehr viel darüber verraten, was du dir eigentlich vom Leben erhoffst. Wie Dr. Shahram Heshmat für Psychology Today schrieb: „Langeweile ist ein emotionales Signal dafür, dass wir nicht tun, was wir tun wollen. Langeweile ermutigt uns dazu, uns Zielen und Projekten zu widmen, die uns mehr erfüllen als die, auf die wir aktuell hinarbeiten.“ Im Bezug auf mehrere Studien erklärt Heshmat gegenüber Refinery29: „Ohne Langeweile hätten wir Menschen gar nicht das Bedürfnis nach Abenteuern und neuen Erlebnissen, das uns zu dem macht, was wir sind: intelligente, neugierige Wesen, immer auf der Suche nach Neuem.“
Die 33-jährige Sarah* hatte sich vorgenommen, 2023 zu ihrem „Spaß-Jahr“ zu machen, nachdem sie 2022 aufgrund einer unerwarteten Krankheit größtenteils im Bett hatte verbringen müssen. 2022 war für sie das Jahr der gecancelten Pläne und des absoluten Nichtstuns. „Ich kam zu dem Entschluss, 2023 mit jeder Menge Spaß zu füllen. Deswegen habe ich mich tatsächlich sehr lange nicht mehr wirklich gelangweilt.“ Zwölf Monate später – nach einem Jahr voller Treffen, Ski-Urlaube, spontaner Wochenendtrips und viel Prosecco – freut sich Sarah geradezu auf ein bisschen Langeweile, um sich endlich auch mal weniger aufregenden Dingen widmen zu können. „2024 habe ich genau das entgegengesetzte Mindset als 2023: Mir gefällt es, zu wissen, dass mir ein Wochenende ohne Pläne bevorsteht, weil so viele unserer Wochenenden immer so voll sind.“
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Für viele von uns hat es schon fast etwas Schambelastetes, zuzugeben, dass wir gelangweilt sind. Genau deswegen habe ich meine Zeit früher immer produktiv gefüllt, wenn ich nicht gerade verabredet oder bei der Arbeit war. Wenn ich als Kind gegenüber meinen Eltern äußerte, dass mir langweilig sei, bekam ich irgendwelche Aufgaben zu tun. Denn schließlich gibt es immer irgendwas, was wir tun könnten – und sollten.
„Wenn ich zu Hause bin, habe ich immer irgendwas zu tun“, erzählt Sarah. „Dann räume ich zum Beispiel auf, oder putze. Die Vorstellung, einfach rumzusitzen und nichts zu tun, ist nämlich unangenehmer, als endlich mal meinen Schrank auszumisten – oder was auch immer ich sonst seit Monaten vor mir herschiebe.“

Wenn wir uns nie Zeit geben, in der wir nicht gerade aktiv irgendetwas tun, kann das dazu führen, dass unser Gehirn weder die Zeit noch den Raum dafür bekommt, um Sorgen oder Entscheidungen zu verarbeiten, die uns im Kopf herumspuken.

Dr. Lindsay Browning
Wenn ich ganz ehrlich bin, kommt mir „Langeweile“ sehr ähnlich vor wie „Faulheit“. Laut Expert:innen könnten genau solche Gedanken aber dazu führen, dass ich umso unruhiger werde. „Wenn wir uns nie Zeit geben, in der wir nicht gerade aktiv irgendetwas tun, kann das dazu führen, dass unser Gehirn weder die Zeit noch den Raum dafür bekommt, um Sorgen oder Entscheidungen zu verarbeiten, die uns im Kopf herumspuken“, erklärt die Psychologin, Neurowissenschaftlerin und Schlafexpertin Dr. Lindsay Browning. 
„Genau deswegen kann es passieren, dass du nachts ins Bett gehst und das Licht ausmachst und dir dann plötzlich den Kopf mit all den Sorgen zermarterst, die du tagsüber nicht an dich ranlässt. Oder aber du wachst um drei oder vier Uhr morgens auf und grübelst über all das nach, was du noch nicht erledigt hast. Das liegt daran, dass du dir während des Tages nicht die Zeit und den Raum gibst, um diese Gedanken zu denken.“
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Mir hat diese Phase des Nichtstuns den Freiraum gewährt, mich gesundheitlich von stress- und hormonbedingten Problemen zu erholen. Ich hatte außerdem keine Chance, mich mit irgendwelchen sozialen Events davor zu drücken, einige emotionale Schwierigkeiten endlich anzugehen. Ich bekomme genug Schlaf (weil ich abends nirgendwo mehr hingehen) – und denke viel über die letzten, wirklich anstrengenden Jahre meines Lebens nach.
Natürlich findet nicht jeder diese ruhigere Version meines Lebens toll. Als ich jemandem vor Kurzem erzählte, ich hätte meinen Samstagabend damit verbracht, eine neue Suppe zu kochen, kam darauf nur ein erstauntes: „Oh.“ 
In den Augen vieler Leute bin ich nicht mehr dieselbe. Sie – und ich – vergleichen mein aktuelles, „langweiliges“ Ich offensichtlich sehr oft mit der lebhaften Version, die ich bis vor Kurzem noch war. Und obwohl ich sie vermisse, war sie nicht immer gut für mich.
Es ist nur selten gesund, einen verklärten Blick auf eine alte Version von dir selbst zu haben – ob nun wegen ihrer Figur, ihres Einkommens, ihrer Beziehungen, oder was auch immer. Ich persönlich vergesse dabei oft, dass ich damals andauernd müde war, und dass meine Prioritäten und Finanzen völlig chaotisch aussahen. Ich sagte damals Ja zu Verabredungen, zu denen ich unbedingt hätte Nein sagen sollen. Während meiner Zeit der Langeweile ist mir aber klar geworden, dass ich die geselligere Version von mir selbst nur deshalb mehr mag, weil sie anderen besser gefällt. Ich bin mit meiner Existenzkrise also noch lange nicht fertig.
In meiner Langeweile weiß ich, wie Sarah, dass ich auf jeden Fall eines Tages wieder ein erfüllteres, abenteuerlicheres Leben führen will. Ich warte darauf, meine große, glamouröse Rückkehr in die Welt zu feiern. Indem ich aber eine Zeit lang keine Pläne hatte, habe ich so viel über mich selbst gelernt – über meine Wünsche, und über meine Schwächen. Ich will meine Karriere vorantreiben, aber auch tiefere Freundschaften knüpfen und wertvolle Erfahrungen sammeln. Ich will mehr Ruhe, mehr Liebe, mehr Frieden. Ich werde mich online wieder häufiger zeigen, und in nächster Zeit auch durchaus mal bei einem oder drei Events aufkreuzen. Aber ich betrachte Langeweile nicht mehr als etwas Schlimmes. Der Zwang, meine Tage mit irgendwas füllen zu müssen, um mir und anderen zu beweisen, dass ich lebe, ist vorbei. Ich bin hier. Ich mache Sachen. Ich existiere. Nur eben inkognito.
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*Namen wurden von der Redaktion geändert.
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