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Ich fühle mich in „männlichen“ Outfits stark & das ist ein Problem

Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal einen Blazer anzog, der einfach richtig saß. Ich hatte ihn inmitten einer vollen Kleiderstange im Secondhandladen entdeckt; er war gar nichts Auffälliges, bloß eine schlichte, schwarze Jacke. Ich weiß noch, wie mir sein seidenes Innenfutter über die Arme glitt und ich mich dabei fühlte, als hätte ich einen neuen Teil meiner Identität entdeckt. „Das hier bin ich!“, dachte ich, als mir mein Spiegelbild in der Umkleide entgegenstarrte.
Ich glaube an die Macht des Selbstausdrucks. Ich weiß, dass Mode die Fähigkeit hat, unsere Laune zu beeinflussen und ersten Eindrücken besonders viel Kraft zu verleihen. Das geht nicht nur mir so; in vielen Communitys ist diese identitätsstärkende Wirkung der Mode sehr wichtig – zum Beispiel, um die eigene Queerness nach außen zu tragen oder sich mit dem eigenen Gender wohl zu fühlen.
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Obwohl mein eigener Style zwischen feminin und maskulin hin- und herschwankt, ist meine Vorstellung von „Power Dressing“ ganz simpel: Blazer und maßgeschneiderte Hosen – denn eine starke, gerade Silhouette gibt mir ein Gefühl von Macht. Ich habe das außerdem immer als eine Art Mittelfinger an den male gaze gesehen, weil ich damit dem widersprach, was von mir als Frau erwartet wurde (obwohl ich auch Kleider und Röcke liebe). Ein Gespräch mit einer Freundin über genau dieses Thema warf mich aber ein bisschen aus der Bahn. Wir fragten uns: „Warte mal – was ist, wenn unser Power Dressing einfach nur ein weiteres Symptom des Patriarchats ist?“

Maskulinität wurde traditionell mit Männern in Verbindung gebracht. Das impliziert, dass sich Frauen ‚wie Männer kleiden‘ müssen, um ernst genommen zu werden, voranzukommen und den male gaze zu neutralisieren.

Dr Lauren Gurrieri
„Power Dressing spiegelt unsere Vergötterung von allem stereotypisch Maskulinen wider, das für Autorität, Macht und Kontrolle steht“, erklärt die Marketing-Professorin Dr. Lauren Gurrieri von der Melbourner RMIT University. 
„Maskulinität wurde traditionell mit Männern in Verbindung gebracht. Das impliziert, dass sich Frauen ‚wie Männer kleiden‘ müssen, um ernst genommen zu werden, voranzukommen und den male gaze zu neutralisieren. Dadurch wiederum entsteht ein binärer Kontrast: Maskulinität wird bewundert, Femininität entwertet. Um diese Aufteilung anzufechten, müssen wir die Gleichung ‚Maskulinität = Männer‘ aufbrechen.“
Obwohl Maskulinität gemeinhin als soziales Konstrukt betrachtet wird, bestimmen typisch „männliche“ Eigenschaften wie Ehrgeiz, Aggression und Härte immer noch unsere Gesellschaftsstrukturen, unsere Gespräche – und auch unsere Mode.
„Das sehen wir beispielsweise in der wachsenden Beliebtheit von Unisex-Kleidung, die frei von gegenderten Zusammenhängen und Bedeutungen sein soll“, sagt Gurrieri. Von unabhängigen Labels bis zu High-End-Marken wie Versace und Balenciaga führen immer mehr Brands ihre Womens- und Menswear zu einer Kollektion zusammen. Die genderfreie Modewelt macht immer größere Schritte; warum fühlt es sich dann aber immer noch so an, als würden unsere patriarchischen Standards unsere Style-Entscheidungen enorm beeinflussen, obwohl wir bewusst versuchen, sie auf den Kopf zu stellen? 
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„Die Branche fußt in ihrem Kern auf fehlender Gender-Gleichberechtigung. Die Kleiderindustrie ist zwar größtenteils weiblich, fußt aber oft auf gefährlicher, ausbeuterischer Arbeit“, erklärt Gurrieri in Bezug auf die Untrennbarkeit zwischen Patriarchat und Modebranche. „Die sichtbarsten Rollen für Frauen in der Modeindustrie finden sich in der Model-Sparte – eine Form der ästhetischen Arbeit, wo das ‚gute Aussehen‘ alles ist, was zählt, und der Wert der Frau darauf beschränkt wird, einem sehr begrenzten, unrealistischen Schönheitsideal zu entsprechen, oft auf Kosten der eigenen Gesundheit.“
Aber selbst als Modedesigner:innen und Führungskräfte steht es um die meisten Frauen in der Branche nicht besser – weil sie in diesen Positionen häufig unsichtbar sind. In dieser Dynamik spiegelt sich wider, wie der male gaze in der Modewelt funktioniert: Die Männer sind die Betrachtenden, die Frauen die Betrachteten. „Der male gaze zeigt uns die Erwartungen daran, wie die Körper von Frauen aussehen sollen und was ästhetisch von ihnen verlangt wird. Das wiederum sorgt dafür, dass die Frauen sexualisiert, idealisiert und zu Objekten der heteronormativen Lust werden“, erklärt Gurrieri.
Auf TikTok sehen wir hingegen immer mehr Frauen, die sich dem male gaze ganz verweigern und stattdessen versuchen, mit ihren Outfits dem female gaze zu entsprechen. Der Begriff ist keine komplette Umkehrung des male gaze und hat nichts damit zu tun, weibliche Dominanz zu etablieren, sondern soll dem Publikum vermitteln, was Frauen sehen und empfinden. Einige behaupten allerdings, den female gaze gebe es gar nicht. So oder so: Was die TikToker:innen damit wirklich ausdrücken, ist, dass sie sich letztlich für sich selbst kleiden, anstatt irgendwelchen externen Erwartungen zu entsprechen. 
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Für viele Frauen sind feminine Silhouetten und Kleidungsstücke ihre Form des Power Dressing. Aber auch hier frage ich mich, ob sie sich damit einfach gegenderten Kleidungsstandards unterwerfen. „Stereotypisch femininere Kleidung ist die andere Seite der Dynamik – weil Femininität traditionell mit Unterwürfigkeit, Schönheit und Frivolität verknüpft wird“, erklärt Gurrieri. 
„Daher werden Männer oft davon abgehalten, femininer aufzutreten. Das ist bis heute ein Problem“, erzählt sie weiter. „Denk nur mal an die Empörung, nachdem Harry Styles auf seinem Vogue-Cover ein Gucci-Kleid trug. Die historische Entwertung von Feminität wird allerdings immer stärker angefochten, weil die Gender-Stereotypen, die die Modewelt so lange dominiert haben, allmählich zerbrechen.“
Ich jedenfalls bin zu dem Schluss gekommen, dass feminine Styles natürlich nicht mit Unterwürfigkeit, Oberflächlichkeit oder Passivität verbunden werden sollten. Es ist mir fast peinlich, dass ich trotzdem unterbewusst davon überzeugt zu sein schien; vielleicht ist das aber ein Beweis dafür, wie tief die sexistischen Ideale unserer Gesellschaft in uns allen verankert sind und wie stark sich die männliche Kontrolle weiterhin auf unsere Leben und Mode-Entscheidungen auswirkt. 
Wenn ich meinen Blazer heute anschaue, erinnert er mich immer noch an powerwalkende Geschäftsmänner mit wichtig aussehenden Aktenkoffern in der Hand. Ich finde es nicht zwangsläufig schlecht, dass ich Blazer mit Macht und Kontrolle verbinde – es ist aber wichtig, die Gender-Vorurteile zu entlernen, die mit diesen Gedanken verflochten sind. Mich für mich selbst zu kleiden – und wirklich für mich selbst – heißt, mich mit den Strukturen auseinanderzusetzen, die die Modewelt durchziehen, anstatt mich vor ihnen zu drücken. Und außerdem liebe ich meinen Blazer viel zu sehr, um ihn von jetzt an im Schrank hängen zu lassen. 

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