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Optimierungswahn „Inspiration” – ich habe keine Lust von allem inspiriert sein zu müssen

Tyler Spangler
Heute Morgen stöberte ich für eine Präsentation ein wenig auf Pinterest herum und suchte nach Bildmaterial. Natürlich kam direkt die unvermeidliche Aufforderung, einen Account zu erstellen. Habe ich in Herrgotts Namen getan, nur, um drei Sekunden später den ersten Newsletter zu bekommen. „Lisa, welche Boards inspirieren dich?“ wurde ich da schon im Betreff gefragt. Und irgendwie war genau das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Inspiration ist nämlich salonfähig geworden, ach, inflationär! Goethe ist damals auf seine berühmte „Italienische Reise“ gegangen. Steve Jobs hat den ein oder anderen LSD-Trip hinter sich gebracht, um auf neue Ideen (wie diesen Mac) zu kommen. Und der Künstler Jonathan Meese wiederum wird ungehalten, wenn man das Wort „Inspiration” in seiner Gegenwart auch nur ausspricht.
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Ich rede hier freilich von Weltliteraten, Visionären und großen Namen der zeitgenössischen Kunst – aber des Pudels Kern (um mal bei Goethe zu bleiben) ist doch dieser: Inspiration, das ist etwas Abstraktes, ein Prozess, der meine Ideen und Gedanken in ungeahnte Gebiete lenkt, raus aus der Komfortzone. Ein Funken, der die Synapsen neu miteinander verschmelzen lässt, uns geistig befreit und auf Pfade führt, die uns vorher unbekannt waren.

Der Wunsch nach Inspiration ist inflationär geworden

Inspiration bedeutet wörtlich „Beseelung“ – es wird also Leben, eine Seele in etwas eingehaucht, es wird etwas erschaffen. Da spielt auch eine Menge Religiosität und Esoterik mit hinein. Ich werde hier vielleicht gerade pathetisch, aber Inspiration ist für mein Verständnis mehr, als nur ein Foto von einem Kleid anzuschauen und dann zu denken: „Oh, das ist ein schönes Kleid, das könnte ich diesen Sommer genauso tragen.“
Nun sind wir aber an genau diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, wann die Marketingteams und Redaktionen dieser Erde das Wort für sich entdeckt haben, aber es war eine schleichende Invasion, die inzwischen ihren Höhepunkt erreicht hat. Wo ich auch gehe und stehe, man möchte mich inspirieren. Mit der neuen Sommerkollektion, mit dem neuen Müsliriegel, mit dem neuen Alkohol-Mix-Getränk, mein Fitnessstudio möchte mich ebenso inspirieren wie mein Supermarkt. Der Vintageladen um die Ecke hat es ebenso auf meine Inspiration abgesehen, wie die Bäckerei am Ende der Straße. Die Magazine in den Zeitschriftenläden sind sowieso schon immer auf großer Inspirations-Mission und die Schaufenster der Einkaufsstraßen brüllen es mir in Form von modisch gestylten Puppen und Fensterstickern entgegen. Sogar mein Arbeitgeber Refinery29 möchte mich sehr oft inspirieren (hab euch trotzdem lieb).
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Inspiration ist in Wirklichkeit Imitation und Konsum

Mir stellt sich nun aber eine Frage: WOZU möchtet ihr mich inspirieren? Inspirieren WAS ZU TUN? Inwiefern soll der Kauf eines Shampoos, eines neuen Rocks oder dieses Müsliriegels meinen Horizont erweitern und meinem Geist frisches Leben einhauchen? Inspiration bedeutet heutzutage und in unserer Konsumwelt nichts anderes mehr als nachmachen und kaufen. Wenn Wohntrends das Ziel haben, mich zu inspirieren, bedeutet das in Wirklichkeit, dass ich meine Butze genau so einrichten soll, wie der Katalog es mir vorzeigt. Und wenn ein Schaufenster mir die neuste, inspirierende Sommermode präsentiert, soll ich im Prinzip einfach den Laden betreten und das Outfit von der Stange kaufen.
Inspiration ist heutzutage Imitation und Konsum und in Wirklichkeit sind wir alle von so viel vermeintlicher „Inspiration“ umgeben, dass es schwerfällt, selbst eine Entscheidung zu treffen. Es geht Hand in Hand mit dem paradoxen Phänomen, dass vor allem Millennials und Großstädter*innen, die auf Biegen und Brechen total „individuell“ sein möchten, alle gleich aussehen.
Was mich nach wie vor ganz ohne Regeln, Vorgaben und unvoreingenommen inspiriert, ist die gute, alte Mutter Natur und Musik. Weil beides Emotionen und Erinnerungen in mir weckt und meine Gedanken frei treiben lässt. Ich suche Inspiration auch nicht jeden Tag, es gibt genug Momente, in denen ich extrem fein mit mir bin und mich genau so, wie alles ist, sehr wohlfühle. Inspiriert sein ist irgendwie auch das ultimative Life-Goal geworden, eine tägliche Aufgabe, die es zu erfüllen gilt und nach der wir streben müssen.

Für echte Inspiration braucht man kein Geld

Wer schon einmal versucht hat Kreativität zu forcieren, weiß: Das klappt nicht. Sie muss von alleine kommen und das Ganze muss ein mehr oder weniger natürlicher Prozess sein, der eine Art Eigenleben entwickelt und aus sich heraus wächst. Mir ist bewusst, dass ich mich durch meinen Lebensstil all diesen äußeren Einflüssen stärker aussetze, als es vielleicht andere tun. Ich wohne in einer Großstadt, hänge (zu) viel an Smartphone und Laptop und arbeite in einer Branche, die ohne Konsum nicht existieren würde.
Dennoch finde ich mein Anliegen berechtigt und fordere ein Ende dieses Inspirations-Hypes. Einfach mal den Kopf frei machen, tief durchatmen, das Leben wie ein weißes Blatt Papier betrachten und nur das hineinlassen, was uns berührt und Emotionen in uns weckt. Dann kommt echte Inspiration und dafür muss man auch kein Geld ausgeben und kein Konto eröffnen.

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