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Geht’s dir gut oder bist du die älteste Tochter?

Foto: Alexandra Gavillet.
„Die älteste Tochter zu sein ist wie ein unbezahltes Praktikum bis ans Ende deines Lebens.“ Dieser Tweet ließ mich beim Scrollen letztens innehalten. Er bekam Tausende Likes, und die Kommentare waren voller Zustimmung. Jemand antwortete: „Für ein Praktikum bekommt man aber wenigstens Anerkennung.“ Ich fühlte mich so bestätigt.
Als älteste Tochter in meiner Familie war mir während meiner Jugend immer bewusst, dass meine Eltern mit mir strenger umgingen, ich einen Großteil der Hausarbeit übernehmen sollte und regelmäßig bei Streitigkeiten zwischen meinen Familienmitgliedern vermitteln musste (was ich bis heute tue). Sobald ich 16 war, wurde mir gesagt, ich solle mir einen Teilzeitjob suchen; mein Bruder hingegen durfte sich einfach auf die Schule konzentrieren. Mit 11 Jahren bekam ich mit, wie hässlich eine Scheidung ablaufen kann, und diente meiner Mutter häufig als emotionale Stütze. Weil sie als alleinerziehende Mutter in Vollzeit arbeitete, um uns finanziell über Wasser zu halten, lag es oft an mir, zu putzen, zu kochen und mich um meinen drei Jahre jüngeren Bruder zu kümmern. Ich würde das alles auch genauso nochmal machen. Trotzdem empfinde ich deswegen ab und zu einen gewissen Groll – und mit dem bin ich scheinbar nicht allein.
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Das ganze Internet ist voller Posts darüber, was es eigentlich für eine Abzocke ist, die älteste Tochter zu sein. Viele kritisieren die unsichtbare Arbeit, die damit einhergeht, nicht nur das erstgeborene Kind zu sein, sondern auch noch eine Frau. Ein TikTok zeigt zum Beispiel eine Creator, die erschöpft in die Kamera guckt und dazu schreibt: „POV: Du bist die älteste Tochter und musstest gerade in einem Streit zwischen deiner Schwester, deiner Mutter und deinem Vater vermitteln.“ In einem anderen Video fragt eine TikTokerin: „Wir haben also einfach akzeptiert, dass die älteste Tochter das ungewürdigte Rückgrat der Familie ist?“ Andere erzählen von Opfern, die sie wegen ihrer Älteste-Tochter-Rolle erbringen mussten – wie zum Beispiel, dass sie für ihre Geschwister eine Art zweite Mutter waren, oder für ihre Eltern quasi der „Testlauf“. Der Hashtag #EldestDaughterSyndrome – unter dem TikTok-User:innen „typische“ Charaktereigenschaften von erstgeborenen Töchtern sammeln (wie Perfektionismus, Schuldkomplexe, Kontrollsucht, Neid und der Wunsch, es allen recht machen zu wollen) –, hat inzwischen schon über 280 Millionen Views.
„Bis vor relativ kurzer Zeit wurde die Bedeutung von Geschwistern sowie ihre Geburtsreihenfolge hinsichtlich der psychologischen Entwicklung von Kindern in der Forschung weitestgehend vernachlässigt“, erklärt die Therapeutin Louise Tyler. Und das, obwohl in Deutschland mehr als drei Viertel aller Kinder mit Geschwistern aufwachsen. „Heute gilt all das aber als entscheidend. Die Persönlichkeit wird von einer Mischung aus Genetik, Erziehung, gesellschaftlichen Erwartungen, Umfeld, Lebenserfahrungen und Gesundheit beeinflusst und geformt. Selbst der Erziehungsaspekt ist relevant, weil jedes Kind in einer ganz spezifischen Situation und Zeit innerhalb einer Familie geboren und aufgezogen wird.“
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In den 1930ern entwickelte der österreichische Psychotherapeut Alfred Adler (der Zweitgeborene unter sieben Kindern) die Theorie zur Geburtsreihenfolge. Er vermutete, die Reihenfolge der Geburten der Kinder könne sich enorm auf deren individuelle Persönlichkeiten auswirken. Adler zufolge seien Erstgeborene meist neurotisch, konservativ und pflichtbewusst; die „Sandwichkinder“ dazwischen seien wetteifernd, rebellisch und Jasager:innen; und die jüngsten Geschwistern seien kreativ, aufmerksamkeitsheischend und unabhängig. Seitdem haben viele Studien Adlers Theorie vermeintlich widerlegt und behaupten, es gäbe zwar keine konkrete, erwiesene Verbindung zwischen der Geburtsreihenfolge und der Charakterentwicklung – doch könne sich die Reaktion von Eltern und Kindern auf diese Geburtsreihenfolge sehr wohl auf die Persönlichkeit auswirken.
Zu dieser Reaktion gehört zum Beispiel die unterbewusste Erwartung, die deine Eltern aufgrund der Geburtsreihenfolge oder unabsichtlichen Gender-Vorurteilen an dich richten. Tyler vermutet, es seien genau diese Erwartungen, denen wir Phänomene wie das „Älteste-Tochter-Syndrom“ zu verdanken haben. Auf TikTok erzählen viele älteste Töchter von dem empfundenen Druck, schneller erwachsen werden zu müssen, oder sogar ihre Kindheit aufgeben zu müssen, um Elternersatz zu spielen. „Das nennt sich Parentifizierung, und Mädchen nehmen diese Rolle mit größerer Wahrscheinlichkeit an – wenn auch nicht immer“, erklärt Tyler. „Das kann mit Gender-Stereotypen zusammenhängen, die zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung werden können. Vielleicht wird eine Tochter zum Beispiel schon früh als ‚gutes Mädchen‘, ‚eine große Hilfe‘ oder ‚brav‘ abgestempelt. Wenn ein Kind solche Nachrichten vermittelt bekommt, kann es sich unter Druck gesetzt fühlen, diese Verhaltensweisen beizubehalten – selbst dann, wenn es das gar nicht will. Das kann wiederum dazu führen, dass diese Kinder lernen, ihre eigenen Bedürfnisse und Emotionen zu unterdrücken. Jungen hingegen werden eher als ‚frech‘, ‚hyperaktiv‘ oder ‚aufmüpfig‘ abgestempelt.“
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Zur Parentifizierung kommt es laut Tyler am ehesten in Familien, in denen eine schwierige oder dysfunktionale Dynamik herrscht. „Die Kinder können dann einige der Rollen, Sorgen oder Verantwortungen der Eltern übernehmen“, sagt sie. „Wohingegen wir über Dinge wie Süchte, geistige Gesundheitsprobleme und transgenerationale Traumata heute viel offener sprechen, wurde all das noch vor einem Jahrzehnt hinter verschlossenen Türen versteckt. Oft lag es an den Kindern, die Scherben zusammenzukehren und alles hinter einer Mauer der Scham zu verbergen, um weiterhin alles ‚normal‘ aussehen zu lassen.“
Auch die 19-jährige Kennedy hat auf TikTok ein Video zu ihrer Erfahrung mit dem „Eldest Daughter Syndrome“ gepostet. Sie erzählt gegenüber Refinery29, es habe ihre Persönlichkeit definitiv beeinflusst, als älteste Tochter aufzuwachsen. „Mir war gar nicht bewusst, wie intensiv und anders die Erziehungsmethoden meiner Mutter waren, als ich noch ihr einziges Kind war, bis meine jüngeren Geschwister zur Welt kamen“, sagt sie. „Ich habe eine zehnjährige Schwester und einen bald zwei Jahre alten Bruder, und obwohl meine Mum uns definitiv alle gleich liebt und wir ihr Ein und Alles sind, erzieht sie sie viel sanfter als mich. Zugegeben, unsere Lebensumstände sind heute auch ganz anders als damals, als es nur wir beide waren. Heute ist sie verheiratet, und wir leben viel bequemer. Als ich älter wurde, erkannte meine Mutter aber, dass viele ihrer Erziehungsmethoden missbräuchlich waren (dank generationsübergreifendem Trauma). Viele davon legte sie ab, als meine Schwester zur Welt kam.“
Tatsächlich spielen bei der Erziehung natürlich auch soziale und wirtschaftliche Aspekte sowie der religiöse, kulturelle und ethnische Hintergrund eine Rolle. In einem emotionalen TikTok mit über 200.000 Likes teilt die 21-jährige Kunststudentin Aneira ihre Frustration mit ihrer Position als älteste Tochter. „Fast alle in meiner südostasiatischen Familie verlassen sich auf mich“, erzählt sie Refinery29. „In meiner Kultur hat die Familie immer oberste Priorität, und je älter du wirst, desto mehr Verantwortung sollst du übernehmen. Als erstgeborene Tochter und älteste Enkeltochter der Familie wurde mir beigebracht, dass ich mich um alle kümmern sollte. Mir wurde vermittelt, dass alle zu mir aufschauten und ich deswegen perfekt sein musste – weil ich das Rollenvorbild in der Familie bin. Meiner Erfahrung nach ist das sehr einsam und schwierig, insbesondere für meine mentale Gesundheit. Es ist, als dürften alle anderen Fehler machen, ich hingegen nicht.“
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Auch die 25-jährige Joyce ist auf TikTok schon mit Videos wie „Älteste Tochter von Einwanderer-Eltern Check-in“, „Meine jüngeren Geschwister haben nicht dieselbe Lebenserfahrung wie ich“ und „Ich komme in meine ‚Enttäuschendes Kind‘-Ära“ viral gegangen. In ihren Videos erzählt sie davon, wie ihr eine Therapie dabei geholfen habe, ihrem „geringen Selbstwert“, ihrer „Unruhe“ und ihrem „Bedürfnis, es allen recht zu machen“ auf den Grund zu gehen. Uns sagt sie: „Ich habe zwei jüngere Geschwister, das jüngste ist fast zehn Jahre jünger als ich. Das sorgt für generationsbedingte Unterschiede zwischen uns. Außerdem haben wir völlig andere Erfahrungen mit unseren Eltern gemacht. Ich hatte viel mit Neid zu kämpfen. Ich fand es fast unfair, dass sie als Kinder mehr durften und für kleine Dinge gelobt wurden, die von mir ganz selbstverständlich erwartet wurden. Ich glaube, das hat sich langfristig auf mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl ausgewirkt. Daran arbeite ich aber, und dafür gebe ich meinen Geschwistern keine Schuld.“
Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Nicht alle erstgeborenen Töchter haben aus ihrer Kindheit und Erziehung ein Trauma mitgenommen – und auch die späteren Geschwister können Traumata entwickeln. Jede Kindheit bringt ganz eigene Herausforderungen mit sich. Obwohl das „Älteste-Tochter-Syndrom“ ein nicht-medizinischer Begriff ist, der im Internet entstanden ist, lässt sich dennoch nicht leugnen, dass es eine sehr große Community aus erstgeborenen Frauen gibt, die Ähnliches empfinden.
„Das Internet und Plattformen wie TikTok haben vielen Frauen die damit einhergehende Einsamkeit genommen“, meint Yasin, Gründerin der gemeinnützigen Organisation Home Girls Unite, einer internationalen Support-Gruppe „von ältesten Töchtern für älteste Töchter“. „Wir bieten ältesten Töchtern den Raum, über ihre Erfahrungen zu sprechen, ohne dass sie sich darum sorgen müssen, ihre Familien könnten davon etwas mitbekommen“, sagt sie.
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„Es ist wichtig, sich bestätigt zu fühlen, weil viele von uns in Familien aufgewachsen sind, in denen unsere Gefühle nie anerkannt wurden“, erzählt sie weiter. „Das gilt vor allem für älteste Töchter aus migrantischen Familien. Manche Eltern tun die Gefühle [der Töchter] mit einem Schulterzucken ab und werfen ihnen sogar vor, zu ‚verwestlicht‘ zu sein.“
Bei diesen Gesprächen unter Töchtern ist es wichtig, auf ausgeglichene Kommunikation zu achten, damit dabei weder den Eltern noch den Geschwistern zu viel Schuld zugesprochen wird, ohne zu verstehen, warum eine Situation vielleicht so ist, wie sie ist. „Viele migrantische Eltern wollen die kulturellen Werte beibehalten, die sie in ihren Herkunftsländern erlernt haben. Das heißt: Wenn sie auswandern, setzen sie diese kulturellen Werte und Normen in vielen Lebensbereichen womöglich weiterhin durch – auch innerhalb der Familie und der Erziehung“, erklärt Yasin. „Darunter leiden häufig vor allem die Töchter, da viele migrantische Familien und Communitys patriarchalisch aufgebaut sind.“
Yasin geht es mit Home Girls Unite vor allem darum, jungen Frauen das Gefühl zu geben, verstanden und gesehen zu werden. „Wir bieten einen Raum, in dem man dir zuhört, ohne dich zu verurteilen, und in dem du kulturell angebrachten Support bekommst.“
Ganz unabhängig von deinem kulturellen Hintergrund und deiner Position in der Geburtsreihenfolge: Wenn du dich selbst in den Erfahrungen wiedererkennst, die in diesem Artikel geschildert wurden, empfiehlt dir Home Girls Unite folgende Tipps.

Denke daran, dass es okay ist, von vorne zu beginnen

Wenn du dich dazu entschließt, dein Leben für dich zu leben, kann das mit Schuldgefühlen einhergehen. Aber denke dran: Du verdienst nur das Beste – so wie alle anderen Menschen in deinem Leben.
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Versuche, es nicht allen recht machen zu wollen

Die Leute sind ohnehin nur selten wirklich zufrieden. Spar dir die Mühe und lerne, nein zu sagen.

Hol dir professionelle Hilfe

Es kann dir bei der Heilung helfen, dir eine:n Therapeut:in oder Psycholog:in an die Seite zu holen. Dadurch lernst du, deine Rolle als älteste Tochter besser zu verstehen – und den Stress zu bewältigen, der damit einhergeht.
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