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Ich habe es satt, beim Dating „vernünftig“ zu sein

Foto: Sophia Wilson.
Meine Freundin verschluckt sich vor lauter Schreck fast an ihrem Getränk, während ich selbst genüsslich an meinem schlürfe, um sie auf die Folter zu spannen. Ich habe ihr gerade das neueste Update zu meinem Liebesleben geliefert, und sie starrt mich entsetzt an. Dann atmet sie einmal tief ein und stellt mir die Frage, deren Antwort sie eigentlich schon kennt: „Wieso hast du das gemacht?“ Ich lache in meinen Drink und grinse sie wissend an, bevor ich antworte: „Weil es eine gute Story ist!“
Wir brechen in lautes Gelächter aus. Meine Freundin weiß genau, was ich damit meine – und auch ohne die intimsten Details meines Liebeslebens zu kennen, wissen es sicher auch viele von euch. Meine Freundin und ich rechtfertigen jedenfalls jede schlechte (oder auch einfach gewagte) Lebensentscheidung damit, es „für die Story“ getan zu haben. Damit sind wir nicht allein: Viele von uns allen versuchen, mithilfe von fragwürdigen Entscheidungen unseren Leben ein bisschen mehr Drama, Aufregung und Spannung einzuhauchen.
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Wieso? Naja, einigen kommt es einfach sehr langweilig vor, einen 08/15-Lebensweg einzuschlagen. Und auch ich habe es teilweise schon bereut, in dieser oder jener Situation das „Richtige“ getan zu haben. Ich weiß, dass sich das verantwortungslos anhört – aber mal ehrlich: In manchen Szenarien ist es einfach zu vernünftig und vorsichtig, das Richtige zu tun. Vor Kurzem habe ich einen Tweet gelesen, der mir dahingehend total aus der Seele sprach: „Ich brauche ein spannendes, aber nicht traumatisierendes Erlebnis.“ 
Ehrlich gesagt bin ich mir nicht ganz sicher, was mich eigentlich zu einigen meiner mutigeren Entscheidungen getrieben hat. So bin ich zum Beispiel schon mit Fremden in den Urlaub gefahren oder habe bei Fremden übernachtet. Oder traf mich zu Dates mit Männern, die das absolute Gegenteil von meinem normalen „Typ“ waren. Ich hatte es mit der Zeit einfach satt, immer das zu tun, was andere von mir erwarteten – nämlich Vernunft und einen kühlen Kopf. Ich bin dafür bekannt, immer das „Richtige“ zu machen. Ohne jetzt wie eine klischeehafte Teenagerin klingen zu wollen: Ich möchte einfach richtig leben. Was das genau heißen soll, weiß ich nicht mal. Worin ich mir aber sicher bin, ist, dass ich in 50 Jahren rückblickend wissen will, dass ich alles nur getan habe, weil ich es wollte. Dass es mir bei jeder Entscheidung vor allem darum ging, mich glücklich zu machen – und insbesondere, dass ich Spaß hatte. Und mit dieser Einstellung bin ich offenbar nicht allein.

„Ich zerbreche mir häufig über alles den Kopf. Also wollte ich jetzt stattdessen einfach mal nur ‚Ja‘ sagen.“

Steph
„Für mich war es eher ein Instinkt, mal etwas für die Story zu machen“, erzählt die 25-jährige Steph. „Ich bin in einer Lebensphase, in der ich alles erreicht habe, das ich erreichen wollte. Bis dahin habe ich es immer vernünftig angehen lassen. Dieses Jahr wollte ich mich aber mal auf das Abenteuer einlassen“, erzählt sie. Und deswegen steht ihr Jahr 2024 im Zeichen von Freude und Abenteuer.
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„Ich war immer das ‚gute Mädchen‘, was auch immer das heißen soll – die gute Tochter, die gute Schülerin. Ich ging zur Kirche und machte genau das, was andere von mir erwarteten. Obwohl ich mir das nie so vorgenommen hatte, war das wohl einfach eine unausgesprochene Erwartung, weil ich die älteste Tochter bin. Wegen dieses Drucks neige ich aber dazu, alles zu zergrübeln. Ich zerbreche mir häufig über alles den Kopf. Also wollte ich jetzt stattdessen einfach mal nur ‚Ja‘ sagen.“
Für Steph bedeutete das, mit einem Typen, den sie in einem anderen Land gerade erst kennengelernt hatte, mal was „Außergewöhnliches“ zu tun. „Und ich bereue es nicht!“, sagt sie. „Ich habe endlich das Gefühl, eine echte, lustige und coole Story erzählen zu können – zum ersten Mal in meinem Leben!“
Natürlich kann es Konsequenzen haben, Risiken einzugehen, ob nun im Leben generell oder beim Dating. Und natürlich sind es nicht alle Risiken wirklich wert. Selbst bei spontanen Entscheidungen sollten wir immer unsere Sicherheit berücksichtigen und darüber nachdenken, ob sie womöglich Konsequenzen mit sich ziehen könnten, die sich danach nicht rückgängig machen lassen. Dennoch sehnen sich viele Menschen nach wilden Erfahrungen, lassen sich aber von ihrer Angst vor dem Unbekannten davon abhalten.
Leuten wie Steph, die für den Großteil ihres Lebens als „gutes Mädchen“ oder Ähnliches abgestempelt wurden, kann es mehr Lebensfreude und Aufregung verleihen, ihren Leben, Karrieren, Beziehungen, Familien, Freundschaften oder religiösen Überzeugungen mal einen Twist einzuhauchen. Unsere Gesellschaft liefert uns meist eine Blaupause dafür, wie wir unsere Leben und unsere Lebensgeschichten strukturieren sollten – unabhängig davon, wie wir uns damit eigentlich fühlen, oder ob es das ist, was wir wirklich wollen. Die Standard-Story „Schule, Uni, Abschluss, Job, Beziehung, Hochzeit, Kinder, zusammen alt werden und sterben“ sorgt dafür, dass manche von uns das Gefühl haben, unsere Geschichte sei quasi schon geschrieben, bevor wir überhaupt richtig gelebt haben. Und obwohl viele Menschen kein Problem damit haben, diesem schnurgeraden Lebenspfad zu folgen, gilt das nicht für alle von uns. Was, wenn du dich eher zu einem anderen, unkonventionelleren Weg hingezogen fühlst? 
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„Vor allem bei Frauen wird alles, was nicht der Norm entspricht, als ‚außergewöhnlich‘ oder ‚untypisch‘ empfunden, weil uns traditionelle Genderrollen aufgedrückt werden“, erklärt die Psychologin Dr. Ariel Breaux Torres. „Wenn du also nicht so lebst und dich beispielsweise anders ernährst, kleidest oder präsentierst, als von dir erwartet wird, empfinden das andere oft so, als sei etwas mit uns nicht ‚richtig‘, oder als hätten wir die Kontrolle verlieren. Dabei haben wir eigentlich viel mehr Entscheidungsfreiraum darüber, wie unser Leben aussehen sollte. Vielleicht geht es bei ungewöhnlichen Entscheidungen also viel weniger darum, eine ‚gute Story‘ mitzunehmen, als darum, die Story des eigenen Lebens überhaupt festzulegen.“

„Ich glaube, viele Leute vergessen, dass wir selbst die Handlung unseres Lebens bestimmen können. Leider wurde die Handlung des Lebens von Frauen in der Vergangenheit oft von anderen vorgeschrieben.“

Dr. Ariel Breaux Torres, Psychologin
Für Steph bedeutet das, endlich mehr Kontrolle über jeden ihrer Lebensbereiche zu haben. „Ich bereue nichts, weil ich mich ganz selbstbewusst für das Abenteuer entschieden habe“, sagt sie. „Ich wusste, dass ich das wirklich wollte. Dazu musste ich mich aber von vielen Erwartungen lösen, die mir eingetrichtert wurden – im Kontext von heterosexuellen Beziehungen zum Beispiel, oder weil ich eine Schwarze Frau bin. Mir wurde immer viel Scham vermittelt, sowie auch der Druck, ‚rein‘ bleiben zu müssen.“
Im Christentum spielt diese sexuelle „Reinheit“ in vielen kirchlichen Communitys eine große Rolle. Jugendlichen wird dabei vermittelt, sie sollten vor der (heterosexuellen) Ehe auf jeden Fall auf jegliche sexuelle Aktivität verzichten, denn nur ehelicher Sex sei „richtig“ und mache dich „respektabler“ als diejenigen, die schon vor der Ehe sexuell aktiv sind. 
Als Konsequenz dieser Reinheitskultur verbinden viele aktuelle und ehemalige Mitglieder religiöser Communitys Lust und Sex mit Schuldgefühlen, Scham und Selbsthass, und haben sich deswegen nie ihrem eigenen Lustempfinden frei hingeben können. Da kann es (unterbewusst) helfen, „für die Story“ zu leben, um sich von widersprüchlichen Vorstellungen davon zu lösen, wie man das eigene Leben leben „sollte“.
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„Auch globale Ereignisse können Menschen dazu motivieren, mehr für die Story zu leben“, meint Dr. Ariel. „Die Pandemie zum Beispiel hat vielen einen ganz neuen Ausblick auf das eigene Leben eröffnet: Das Leben ist endlich, und nichts ist jemals garantiert. Ich schätze, dass viele deswegen in jedem Moment ihr bestes Leben leben und nichts verpassen wollen. Das gilt vor allem für junge Menschen. Weil während der Coronapandemie auch so viele junge Leute gestorben sind, haben viele heute ein anderes Verständnis für ihr eigenes Leben. Deswegen wiegen die Konsequenzen bestimmter Handlungen in ihren Augen nicht so schwer. Die Erfahrung ist es ihnen wert.“
So schön es sein kann, für die eigene Story zu leben, lässt sich dabei aber nur zu leicht vergessen, dass wir in den Leben anderer Leute nicht die Hauptrolle spielen – und dass sie in unserem Leben nicht bloß Nebencharaktere sind. Diese Erkenntnis sorgte für mich dafür, dass ich mal hinterfragte, wie gesund es eigentlich ist, einen „Bad Boy“ zu daten oder mit Fremden zu verreisen, nur der Story wegen. Weil ich mich so darauf fokussiert hatte, möglichst viel Aufregendes zu erleben, hatte ich die Konsequenzen aus den Augen verloren – und vor allem die Konsequenzen für andere Leute und ihre Gefühle.
Dr. Ariel änderte meinen Blick darauf aber ein bisschen: „Niemand kann in jeder Situation alles bedenken, egal, wie gründlich du etwas planst. Wer soll schon wissen können, was passiert oder wie sich etwas verändern könnte? Ich glaube, manchmal unterschätzen wir uns selbst, was unseren Umgang mit Konsequenzen angeht. Das gilt besonders für Frauen. Manchmal kann es uns die Freude am Leben rauben, wenn wir etwas zu sehr durchdenken.“
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Und damit hat sie Recht: Alles hat Konsequenzen, egal, was wir tun oder wofür wir uns entscheiden. Wenn wir also etwas „für die Story“ machen, lösen wir uns damit von der Angst davor, verurteilt, gedemütigt oder stigmatisiert zu werden.
„Ich glaube, viele Leute vergessen, dass wir selbst die Handlung unseres Lebens bestimmen können. Leider wurde die Handlung des Lebens von Frauen in der Vergangenheit oft von anderen vorgeschrieben“, erzählt Dr. Ariel. „Manchmal geht es uns mit den guten und schlechten Entscheidungen, die wir treffen, aber eben darum, unser Leben voll auszuleben. Vielleicht denken wir danach, wir hätten etwas anders machen sollen. Diese Entscheidungen – und vor allem die schlechten – formen aber, wer wir sind, was uns und unsere Leben ausmacht. Das heißt nicht, dass wir unser Leben unbedingt ändern sollten. Wir sollten aber definitiv die Freude ins Zentrum unseres Lebens stellen, und es sollte uns bei jeder Entscheidung um unsere Erfüllung gehen. Das Leben wird immer Konsequenzen haben.“
Steph meint dazu: „Ich glaube nicht, dass es entweder gut oder schlecht ist, Entscheidungen ‚für die Story‘ zu treffen. In dem jeweiligen Moment geht es mir dabei um den Spaß, aber es waren tatsächlich die langfristigen Konsequenzen, die auf mich den größten Einfluss hatten. Ich bin dadurch heute abenteuerlustiger, kann mir und meinem Bauchgefühl besser vertrauen. Noch dazu fühle ich mich dadurch mutiger als je zuvor. Und dadurch ist es das Ganze wert.“
*Namen wurden von der Redaktion geändert.

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