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Wie sich Dating nach einer missbräuchlichen Beziehung anfühlt

Foto: Kara Birnbaum.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um sexuellen Missbrauch und häusliche Gewalt.
Wann hast du das letzte Mal etwas getan, was dir höllische Angst eingejagt hat?
Ich mache mal den Anfang: Dieser Artikel schafft es unter meine Top 3 der größten Ängste meines Lebens – zusammen mit dem Film Mars Attacks!, vor dem ich als Kind total Schiss hatte, und der Angst davor, meinem missbräuchlichen Partner den falschen Orangensaft zu kaufen. Warum mir dieser Artikel hier solche Angst macht? Weil ich damit zum ersten Mal offen zugebe, dass ich mit 19 Opfer von sexuellem Handel wurde.
Ich habe zehn Jahre lang versucht, das für mich zu behalten. Es heißt, dass es bei einem Unfall vor allem deswegen zu einem Stau kommt, weil die Leute nur langsam vorbeifahren, um genau zu erkennen, was da gerade Furchtbares passiert ist. So läuft das in diesem Artikel aber nicht: Ich will diese Story nicht teilen und wüsste auch nicht, wieso das hier helfen sollte.
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Aber es ist passiert. Ich war jung und ließ mich leicht davon beeindrucken, dass mir jemand einen Strauß Rosen ins Büro liefern ließ. Ich dachte, Jungs in meinem Alter seien langweilig, und war der festen Überzeugung, alles besser zu wissen.
Ich dachte, ich sei selbst daran schuld, was mir dann passierte, und für meine Schande ganz allein verantwortlich. Ich weiß auch noch, dass ich damals googelte, ob ich vielleicht in einer missbräuchlichen Beziehung steckte, weil mein Kopf es selbst überhaupt nicht begreifen oder erkennen konnte.
In diesem Artikel geht es nicht darum, mich als Opfer oder als Heldin darzustellen. Es geht darum, mir eine Zeit in meinem Leben einzugestehen, in der alles sehr chaotisch und verwirrend war. Und obwohl ich meine Erfahrungen sicher nicht schönreden oder romantisieren kann, kann ich doch behaupten, damit endlich abgeschlossen zu haben.
Ich habe keine Lust mehr darauf, mir Geschichten über meine Vergangenheit auszudenken, mir wie eine Lügnerin vorzukommen und andauernd in der Angst davor zu leben, meine echte Vergangenheit könnte ans Licht kommen. Diese Last verfolgt mich seit Jahren – und das sowohl in meinen engeren Bindungen als auch in oberflächlichen Gesprächen.
Dating macht das Ganze nochmal umso komplizierter. Mich gegenüber potenziellen Partnern zu öffnen und ihnen zu erzählen, was mir passiert ist und wieso mich manches triggert, fällt mir unheimlich schwer.
Manche dieser Trigger wirken vielleicht total banal – wie ein nett gemeintes Schulterklopfen oder eine Nachricht voller Kuss-Emojis. Dann wäre da noch die unerklärliche Abneigung gegenüber allen Menschen mit Ralph-Lauren-Polohemd. Das klingt jetzt vielleicht eher nach exzentrischen Macken – aber all das sind Teile meines Puzzles. Sie sind kleine Erinnerungen an das große Ganze, das ich erst nach und nach ohne verzerrten Blick oder Schamgefühle zu erkennen lerne.
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Wie fühlt sich Dating an, nachdem du Opfer von sexuellem Handel wurdest? Und wie hältst du einen Teil des eigenen Lebens geheim, der – selbst nach zehn Jahren – so stark beeinflusst, wer du bist? 
Die kurze Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Ich selbst frage mich das beinahe jeden Tag, und – wenn ich mal ganz ehrlich zu mir selbst bin – dieses Geheimnis zu wahren, gab mir sehr lange das Gefühl, es selbst unter Kontrolle zu haben. Ich fühlte mich, als sei es mein Geheimnis, ganz allein meins, und deswegen könne mir niemand je damit wehtun oder wirklich verstehen, wieso mich so scheinbar banale Dinge manchmal triggern.
Es war mein Geheimnis, und ich betrachtete es als die eine Sache, die komplett mir gehörte und die mir niemand mit Gewalt abnehmen konnte. Meiner Meinung nach ist es jetzt aber an der Zeit, mir einzugestehen: Ich lag mit 19 völlig falsch mit meiner Überzeugung, schon alles zu wissen, was ich hätte wissen sollen. Ich bin inzwischen an einem Punkt, an dem ich das Gefühl habe, mich mit dem abfinden zu müssen, was passiert ist. Ich sollte lernen, mich zu lieben – und dieses Kapitel meines Lebens endlich abschließen.
Wenn da nur nicht mein Liebesleben wäre. Dating fühlt sich für mich so an, als würde ich ein Minenfeld der Erinnerungen und Trigger überqueren. Ich kann nicht einfach nur jemanden kennenlernen – sondern muss jedes Mal genau abwägen, wann und wie ich bestimmte Aspekte meiner Vergangenheit teile, ohne sie zum Zentrum jedes Gesprächs werden zu lassen. Dadurch wird aber eben jedes Date, jede Nachricht, jede Geste zum reinsten Balanceakt.
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Klar habe ich inzwischen gelernt, nach den kleinen Red Flags Ausschau zu halten: den zu schnell verteilten Komplimenten, den Geschichten, in denen er immer entweder wie das Opfer oder der Held klingt, die subtile Kritik an meinen Entscheidungen. Vor allem aber habe ich gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören – denn wenn mich die Vergangenheit eins gelehrt hat, dann, mich mehr auf meine Instinkte zu verlassen.
Dann sind da noch die lockereren Aspekte des Datings: die spätnächtlichen Nachrichten, spontane Dates, und das Flirten. In diesen Momenten merke ich, dass ich manchmal innehalte, zögere, überlege: „Was, wenn er alles wüsste?“ Ich weigere mich aber, mich von diesen Gedanken zurückhalten zu lassen. Stattdessen betrachte ich sie als kleine Erinnerungen daran, ich selbst zu sein, authentisch aufzutreten und mich selbst nicht zu verlieren, während ich jemanden kennenlerne.
Überraschenderweise kommt es dabei manchmal zu Momenten der unerwarteten Ehrlichkeit und tatsächlichen Nähe. Momente, in denen ich mich gesehen, verstanden und geschätzt fühle – nicht wegen meiner Vergangenheit, sondern als der Mensch, der ich heute bin. Es sind genau diese Momente (egal, wie schnell sie auch wieder vorübergehen), die mir Hoffnung machen, die mich antreiben und daran erinnern, dass meine Vergangenheit nur ein Kapitel meiner Geschichte ist, und nicht das ganze Buch.
Es dauerte viele Jahre, bis ich die Konsequenzen meines Traumas wirklich begriffen hatte. Ich bin immer noch dabei, zu verstehen, wie es meine Sexualität, meine Interaktionen mit anderen Leuten und meine mentale Gesundheit beeinflusst hat. Dieser Artikel ist für mich definitiv ein weiterer Schritt in Richtung Akzeptanz.
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Meine Erfahrungen haben meine Beziehung zu körperlicher und emotionaler Intimität auf eine Art geformt, die manche vielleicht überraschen dürfte. Intimität macht mir keine Angst, und ich breche auch nicht in Tränen aus, weil sie mich an meine dunkle Vergangenheit erinnert. Stattdessen betrachte ich Intimität als etwas, was nicht völlig mir gehört. Meistens fühle ich mich nach den ersten paar Monaten schon nicht mehr so stark zu meinen Partnern hingezogen. Ich tendiere dazu, mich mehr darauf zu fokussieren, was er will – nicht darauf, was ich will. So, als würde ich schauspielern und so tun, als sei ich jemand anderes, um es hinter mich zu bringen.
Die emotionale Last, die ich mit mir rumschleppe, hat schon viele meiner Beziehungen ruiniert. Es kam schon vor, dass sich ein Partner heimlich die Notizen auf meinem Handy durchlas und sich dann dazu berechtigt fühlte, mir Vorwürfe zu machen; und auch, dass ich mich jemandem anvertraute, der mich falsch verstand und mein Geheimnis daraufhin gegen mich einsetzte.
Während ich der 30 näher komme, merke ich, dass ich häufiger in Beziehungen stecke, in denen ich niemandem etwas schuldig bin, in denen sich Intimität anfühlt wie eine zu erledigende Aufgabe, und in denen mir allein die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft die Luft abschnürt.
Nach so einer chaotischen Vergangenheit ist das Dating für mich zu einem Minenfeld geworden, und Vertrauen fällt mir unheimlich schwer. Meine Überlebensinstinkte haben so lange über meine Handlungen bestimmt und mich oft in völlig paradoxe Situationen getrieben. Während ich mich zum Beispiel manchmal extrem unsicher und unwohl fühle, wenn ich nur daran denke, allein mit einem Mann in einem Zimmer zu sein, empfinde ich in anderen Situationen den unerwarteten und unerklärlichen Drang, auszurasten – beispielsweise, wenn ich mit meiner Mutter im Supermarkt einkaufen bin. Mir ist außerdem aufgefallen, dass ich mich zunehmend zu verständnisvollen Männern über 40 hingezogen fühle.
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Nach einem Jahrzehnt habe ich endlich auch etwas Gutes in dem erkannt, was mir passiert ist – oder in dem, was ich habe passieren lassen. Ich bin immer noch damit beschäftigt, die Schuldfrage zu klären: Sollte ich mich auch schuldig fühlen, oder nicht?
Ich habe aber eine starke Fähigkeit dazu entwickelt, die Warnsignale einer missbräuchlichen Person zu erkennen – zum Beispiel, wenn mich jemand lovebombt, oder wenn sich jede Feier, jeder Anlass um ihn drehen muss. Wenn er Geschichten erzählt, in denen er immer wieder wie der Held klingt – und trotzdem gleichzeitig immer das „Opfer“ ist. Wenn er über all seine Ex-Partner:innen spricht, als seien sie wahnsinnig. Wenn er keine Freund:innen hat und dir versichert, das Alter sei nichts als eine Zahl. Oder wenn er deine Freund:innen verabscheut und versucht, dich von deinen Liebsten zu entfernen.
Dating ist für mich zum Drahtseilakt geworden. Ich bin immer auf der Hut und überlege es mir lieber zweimal, bevor ich in einer App nach rechts swipe – und obwohl mich Blumensträuße an eine naivere Zeit zurückerinnern, sind sie für mich doch immer ein Beweis dafür, wie weit ich gekommen bin. Und ich weiß ganz genau: Selbst bei jeder noch so großen Geste ist es immer eine gute Idee, auch mal das Kleingedruckte zu lesen.
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Wenn du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, die oder der Opfer häuslicher Gewalt ist, kannst du dich beispielsweise unter der Nummer 08000 116 016 oder per Online-Beratung an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden – ein vertrauliches, kostenfreies 24-Stunden-Beratungsangebot, das anonyme, mehrsprachige und barrierefreie Unterstützung bietet. Eine Liste mit weiteren Ansprechpartnern findest du hier.
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