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Meine Freundschaften fühlen sich immer mehr an wie ein Handel

Foto: Meg O'Donnell.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich in der Vorschule meine allererste Freundschaft knüpfte. Es war alles ganz simpel: Ich war damals fünf Jahre alt, und meine Lehrerin setzte mich morgens neben dieses Mädchen. Als die Mittagspause anfing, waren wir bereits befreundet – oder zumindest so weit befreundet, wie man es in dem Alter eben sein kann.
Im Laufe der Jahre wurden die Bindungen, die ich zu den Leuten aufbaute, die daraufhin meine engsten Freund:innen wurden, immer konkreter. Die Beziehungen wurden tiefer und stärker. Ich war immer für sie da, und wusste umgekehrt, dass sie es auch für mich waren.
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Weil ich in einer südasiatischen Familie aufgewachsen bin, wurde mir immer vermittelt, keine persönliche Beziehung dürfe jemals einer Transaktion gleichkommen. Das heißt: Wenn dich jemand aus deinem Freundeskreis oder deiner Familie um deine Hilfe bittet, gibst du dein Bestes – ohne dafür etwas zurückzuerwarten. Wenn du zum Beispiel mit anderen in einem Restaurant oder einer Bar bist, zögerst du nicht davor, die Rechnung zu übernehmen oder eine Runde auszugeben (vorausgesetzt, du kannst dir das guten Gewissens finanziell leisten).
Während meiner Jugend beobachtete ich also immer wieder, wie meine Verwandten so schnell wie möglich nach der Rechnung griffen, sobald sie auf dem Tisch landete. Niemals hätten sie die Gäste zahlen lassen. Diese Mentalität gibt es in vielen asiatischen Haushalten: kleine Gesten, die deinen Liebsten zeigen sollen, dass du ihnen immer gern etwas von dir gibst, ohne dafür etwas von ihnen zu erwarten.
Und genau das macht eine Freundschaft im Kern aus: füreinander da zu sein, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das heißt eben auch, einander auszuhelfen, wenn sich eine:r von euch etwas nicht leisten kann.
Mir ist in letzter Zeit aber aufgefallen, dass sich meine Freundschaften immer mehr wie ein Handel anfühlen. Ich habe den Eindruck, dass wir Menschen einander zunehmend als Ressourcen betrachten. Das gilt vor allem für finanzielle Interaktionen. In den USA gibt es dafür sogar schon einen Begriff: „Venmo culture“ (Venmo ist eine mobile Zahlmethode, ähnlich wie PayPal). Auf Twitter diskutieren zahlreiche Leute darüber, dass sich ihre Freund:innen selbst für die kleinsten Zahlungen Centbeträge hin- und herschicken. So schreibt dort zum Beispiel eine Regina: „Jemand hat mir mal 2 Dollar für eine Flasche Wasser geschickt und ich hätte am liebsten geschrien.“
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Ein Joe machte noch eine absurdere Erfahrung: „Ein Freund hat mal gezählt, wie viele Mozzarella-Sticks er gegessen hat, im Vergleich dazu, wie viele ich hatte. Dann teilte er den Preis dieser Vorspeise entsprechend auf. Das ist doch irre.“
Diese Art von Verhalten sehen wir nicht nur in den USA. Diese Entwicklung unserer Freundschaften hin zu einer Art „Transaktion“ lässt sich in aller Welt beobachten.
„Eine Freundin von mir arbeitete an der Uni mit anderen an einem Gruppenprojekt. Einer aus der Gruppe teilte den Preis für einen Radierer – 5 Rupien, das sind etwa 5 Cent – unter ihnen allen auf“, erinnert sich Shivang Bhargav, ein Student aus Indien.
Diese Entwicklung kommt nicht von irgendwoher. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere sozialen Interaktionen waren enorm. Viele Beziehungen konnten plötzlich nur noch online stattfinden; viele Menschen fühlten sich sehr einsam; und auch für die persönlichen Finanzen war diese Zeit für zahlreiche Leute natürlich nicht einfach.
Das habe ich in meinem eigenen Leben selbst schon bemerkt. Viele Leute um mich herum sparen heute dort, wo sie früher Geld ausgaben, ohne zu zögern – wie fürs Kino, beim Feiern, bei Dates. Und dadurch, dass viele Freundschaften zu einem Großteil online stattfinden, wird der Austausch von Geld jetzt eben auch besser dokumentiert, anstatt nur durch das verbale „Ich zahl’s dir später zurück“.
„Seit der Pandemie stehen wir mit unseren Freund:innen virtuell vielleicht sogar mehr in Kontakt als früher. Wenn Freundschaften aber in die digitale Welt übergehen, verlieren wir manchmal das Gefühl der Nähe und Intimität, das wir sonst bei persönlichen Treffen empfunden hätten. Freundschaften können dadurch einen distanzierteren Charakter entwickeln. Unter diesen Umständen können sie eben auch die Natur einer Transaktion annehmen“, erklärt die Psychotherapeutin Eloise Skinner.
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Natürlich legen wir aber auch immer noch Geld füreinander aus. Meine Freund:innen und ich würden einander immer noch finanziell aushelfen, sollte es nötig sein; die Erwartung, das Geld zurückgezahlt zu bekommen, ist aber enorm gestiegen, weil wir alle mehr auf unsere Finanzen zu achten scheinen.
Unsere geteilten kulturellen Werte beeinflussen unsere Freundschaften oft sehr stark. Das kann sich in unseren Verhaltensmustern, unseren Einstellungen und unseren Überzeugungen äußern. Wenn sich eine Kultur hingegen verändert, verändert sich die Freundschaft oft gleich mit. Mir ist aufgefallen, dass wir uns in unserer Gesellschaft immer weiter vom Community-Mindset entfernen. Wir werden immer hyperindividualistischer, und das führt wiederum dazu, dass wir jede unserer Beziehungen zu einem gewissen Grad als Transaktion empfinden.
Als ich zum Beispiel mit meiner Familie damals in Indien in einem Apartment-Komplex wohnte, kannten wir alle Nachbar:innen in der Gegend, und auch so viele Jahre später verbindet uns alle ein unzertrennliches Band. Heute lebe ich auf der anderen Seite der Welt und glaube nicht, auch nur eine Person aus meiner Nachbarschaft beim Vornamen zu kennen. Und ich glaube, das geht vielen so.
„Der Aufstieg der handelsartigen Freundschaften ist ein Symptom unserer Kultur, die immer mehr Wert auf Individualismus und Selbstliebe legt. Wir wollen glücklich, erfüllt und erfolgreich sein – aber all das, ohne unsere persönliche Zeit oder Energie dafür opfern zu müssen. Anstatt also Beziehungen aufzubauen, die gegenseitige Mühe erfordern, entscheiden sich viele für bequemere, pflegeleichte Freundschaften“, erklärt die Beziehungsexpertin Pippa Murphy.
Und tatsächlich können Freundschaften ja auch anstrengend sein. Wenn es dir mal nicht gut geht, verlässt du dich vielleicht auf die Hilfe und Unterstützung deiner Liebsten. Das kann für die aber auch überfordernd werden, wenn sie nicht im richtigen geistigen Zustand sind, um dir so zur Seite stehen zu können, wie du es brauchst. Ich hasse es, das zugeben zu müssen, aber auch ich war in manchen Situationen schon so überfordert, dass ich mich nicht stärker in eine Freundschaft einbringen konnte. 
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„Durch die steigenden Lebenshaltungskosten fällt es vielen Menschen schwer, sich gerade überhaupt finanziell über Wasser zu halten. Dadurch ist es umso schwieriger, für die eigenen Freund:innen Geld auszugeben, ohne dadurch selbst finanziell belastet zu werden. Als Konsequenz sind viele Leute weniger gewillt, Geld zu verleihen oder ihren Freund:innen auch mal was auszugeben – oder fordern das Geld sofort zurück“, erklärt Murphy. Dieser finanzielle Druck kann außerdem für soziale Belastungen sorgen. „Manchen fällt es schwer, über finanzielle Schwierigkeiten zu sprechen – selbst mit engen Freund:innen.“
Selbst, wenn du nicht erwartest, dass dir deine Freund:innen etwas zurückzahlen, heißt das nicht, dass du dich von jemandem finanziell ausnutzen lassen solltest. „Wenn ich mit Freund:innen was trinken bin, würde ich direkt die Runde bezahlen. Oder wenn jemand finanzielle Hilfe braucht, helfe ich sofort, ohne nachzufragen. Ich würde aber nicht wollen, dass daraus eine Gewohnheit wird“, meint der indische Student Aryan Rajesh.  
„Wenn du eine:n Freund:in hast, der oder die deine Großzügigkeit regelmäßig ausnutzt, ohne selbst mal eine Rückzahlung anzubieten, solltest du dir überlegen, wie es zwischen euch beiden läuft. Oder wenn du wiederum eine:n Freund:in hast, den oder die du nur in deinem Leben behältst, weil er oder sie dir in der Zukunft vielleicht helfen könnte, ist das eine negative, transaktionale Freundschaft“, erklärt Murphy. 
In ihrem Kern sollte es bei einer Freundschaft immer darum gehen, für deine Liebsten da zu sein, ohne etwas zurückzuerwarten. In einer Welt, in der alle was von dir wollen, können Freundschaften, in denen nichts von dir erwartet wird, nämlich ein echter Segen sein. Wenn du hingegen für deine Großherzigkeit ausgenutzt wirst, solltest du nochmal einen kritischen Blick auf diese Beziehungen werfen.
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Vielleicht liege ich auch völlig falsch, und diese Veränderung ist gar kein so großes Ding, wie ich denke. Ich habe das Glück, enge Freund:innen und Verwandte zu haben, die mir jederzeit zur Seite stehen würden – auch finanziell. Und ich bin mir sicher, dass es vielen Leuten genauso geht. Die Welt, in der wir leben, verändert sich aber eben jeden Tag ein wenig, und unsere Beziehungen und Werte gleich mit. Und obwohl man oft hört, jede Veränderung sei etwas Gutes, bin ich mir zumindest in dieser Hinsicht nicht ganz sicher.
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