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Das Problem mit „unkomplizierten“ Freundschaften

Foto: Eylul Aslan.
Marisa* ist Rubys beste Freundin – aber die 18-jährige Ruby hat das Gefühl, sich ihr wirklich nah zu fühlen. Die beiden kennen sich seit Jahren, doch erzählt Marisa Ruby nur selten von ihren Problemen. Oft sprechen die beiden sogar wochenlang nicht miteinander. „Wir wissen zwar, dass wir beste Freundinnen sind – das wird sich auch nicht ändern“, erzählt Ruby. „Trotzdem fühle ich mich damit manchmal unsicher, weil ich nie weiß, wann sie sich mit mir treffen oder mit mir sprechen will.“
Ruby nennt Marisa eine „unkomplizierte Freundin“. Damit meint sie, ihre Freundschaft erfordere nur wenig Aufwand. Das kennen wir wohl alle: Freundschaften, die nur ab und zu eine Nachricht erfordern, und bei denen es nur vergleichsweise selten zu einem Treffen kommt.
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Diese Form von Freundschaft mit minimalem Kontakt gilt generell als etwas Positives, wenn sie trotzdem zu gedeihen scheint. Online gibt es unzählige Posts und Artikel dazu, die diese Art von Freundschaft feiern. „Lasst uns ‚low-maintenance‘-Freundschaften normalisieren“, fordert zum Beispiel die TikTokerin @jlueche in ihrem Video mit über 31.000 Likes. 
Obwohl die meisten Leute in den Kommentaren zuzustimmen scheinen, sehen es doch nicht alle so wie @jlueche. „Um ehrlich zu sein: Manche Leute benutzen ‚unkomplizierte‘ Freundschaften als Ausrede dafür, schlechte Freund:innen zu sein“, schreibt jemand unter dem Video. Jemand anderes fragt, wo genau dann eigentlich noch die Grenze zwischen „Freundschaft“ und „Bekanntschaft“ liegen soll. Und auch Ruby hat schon unter solchen „low-maintenance“-Freundschaften („wenig Aufwand“) gelitten. „Als jemand, die gerne viel Zeit mit Freund:innen verbringt, fühlt es sich doch manchmal ein bisschen einsam an, wenn du das Gefühl hast, dir als Einzige wirklich Mühe zu geben“, erzählt sie.
Manchmal weiß Ruby deswegen nicht, wie wichtig sie ihren Freund:innen wirklich ist. So hat sie beispielsweise Angst davor, ihre Freund:innen zu nerven, weil sie „immer so viel Kontakt will“. „Manchmal habe ich das Gefühl, ihnen mehr Freiraum geben zu müssen. Dann aber gebe ich ihnen wiederum zu viel Raum, und wir entfernen uns voneinander“, sagt sie. „Das ist wie ein ewiger Kampf: Wie viel Freiraum ist zu viel? Und wie viel ist genau richtig, damit sie sich wohl fühlen?“
Die Freundschaftsexpertin Danielle Bayard Jackson hält diese „unkomplizierten“ Freundschaften deswegen für riskant. „Es ist wichtig zu definieren, was genau eine Freundschaft so ‚unaufwendig‘ oder ‚mühelos‘ macht“, sagt sie. „Natürlich ist es toll, wenn eine Freundschaft einfach entspannt läuft, ich darin keine Maske aufsetzen oder eine Rolle spielen muss.“ Wie Bayard Jackson betont, werden diese „low-maintenance“-Freundschaften online aber eher so definiert, dass der Kontakt zwischen den Beteiligten nur sporadisch besteht. Das ist problematisch, meint sie, weil es dazu führen, dass ein:e Freund:in die ganze Mühe übernimmt, diese Freundschaft auch zu erhalten. „Wir sollten immer darauf achten, wie viel Mühe unser Gegenüber investiert, und ob er oder sie damit zufrieden ist“, sagt sie.
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Bayard Jackson zufolge sorgt die Normalisierung von minimalen Kontakt zu unseren Freund:innen nämlich für ein verstärktes Gefühl der Einsamkeit. „Ich halte es nicht für einen Zufall, dass wir gerade eine Epidemie der Einsamkeit erleben und gleichzeitig online damit angegeben wird, wie wenig Mühe man in die eigenen Beziehungen investiert“, meint sie. Weil uns Freundschaften nachweislich gesünder machen und uns länger leben lassen, sollten sie eigentlich eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Neue Daten lassen jedoch vermuten, dass wir inzwischen weniger enge Freundschaften führen als früher. In den USA stieg der Anteil an Menschen, die von sich sagen, keine engen Freundschaften zu haben, zwischen 1990 und 2021 zum Beispiel von 3 auf 12 Prozent.
„Wenn du von einer lockeren Freundschaft genau das bekommst, was du brauchst, ist das super“, meint Bayard Jackson. „Wenn du dir aber gleichzeitig wünschst, du hättest eine tiefere Verbindung zu anderen Menschen, oder den Eindruck hast, niemand kenne dich wirklich, solltest du meiner Meinung nach mal deine Einstellung zu ‚unkomplizierten‘ Freundschaften überdenken.“
Die Vorstellung, Freundschaften könnten bestehen, obwohl wir uns nur minimal darum bemühen, sollten wir Bayard Jackson zufolge unbedingt anzweifeln. „Wenn ich mich durch meine Beziehungen emotional stärker erfüllt fühlen möchte und mir wünsche, dass meine Freund:innen wissen, was sie mir bedeuten, muss ich mich darum auch bemühen“, betont sie. Tatsächlich kann uns die Überzeugung, dass uns Freundschaften quasi in den Schoß fallen sollten, sogar darin beeinträchtigen, Freundschaften zu knüpfen und zu erhalten. Eine Studie ergab vor Kurzem, dass diejenigen, die der Meinung sind, Freundschaften ergäben sich von allein – oder durch Glück –, eher zu Einsamkeit neigen. Diejenigen, die davon überzeugt waren, Freundschaft erfordere auch Mühe, erlebten hingegen weniger Einsamkeit.
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Natürlich wünschen wir uns wohl alle enge Freundschaften, die auch über gelegentliche Anrufe, Nachrichten und Treffen hinausgehen. In einer Gesellschaft, die Freundschaft nur wenig Wert zumisst und Produktivität über alles andere stellt, wirken „unkomplizierte“ Freundschaften jedoch manchmal wie unsere einzige Option. Wir sind vielbeschäftigt und ausgebrannt. Da kann es schwer sein, noch genug Zeit zu finden, um uns unseren Freundschaften zu widmen. 
Sheila Liming, die Autorin von Hanging Out: The Radical Power of Killing Time, erklärt dazu, dass es oft viel Planung erfordert, uns mit unseren Freund:innen zu treffen – vor allem, wenn Beruf, Studium oder Familie miteinander kollidieren. Genau deswegen tendieren wir manchmal vielleicht dazu, uns eher auf die „unkomplizierten“ Freund:innen zu konzentrieren, die mit einem schnellen Kaffee oder Cocktail gerade noch in unseren vollen Terminkalender passen. „Es ist aber schwierig, auf Basis solcher Interaktionen tiefe oder intensive Beziehungen zu entwickeln“, erklärt Liming. „Für den Moment kann uns das erfüllen. Es ist aber schwer, diese Freundschaft wirklich zu vertiefen, wenn du ihr nur hier und da mal eine Stunde widmest.“ Das gilt vor allem für neuere Freundschaften, betont Liming, für die wir bisher noch keine stabile Basis aufgebaut haben.
Dann wäre da noch die Tatsache, dass es sich viele von uns schlichtweg kaum noch leisten können, uns mit Freund:innen zu treffen – aufgrund der kaum noch vorhandenen Gratismöglichkeiten und unserer schrumpfenden Freizeit. Aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten ist es kaum verwunderlich, dass viele ihr Sozialleben aufs Minimum reduziert haben. Wie Liming spekuliert: „Ich glaube, dass uns ein Geldmangel in gewisser Hinsicht dazu zwingt, uns auf weniger aufwendige Beziehungen zu konzentrieren, die wir zum Beispiel nur über unser Handy führen, weil es eben nicht viel kostet.“
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Solche Online-Check-ins sind aber nicht unbedingt ein guter Ersatz für Treffen in Person. Tatsächlich können sie sogar dazu führen, dass wir uns noch einsamer fühlen. „Vielleicht hast du [über dein Handy] viel Kontakt mit anderen, aber die wenigsten dieser Kontakte gehen wirklich tief“, meint Liming. Ihr zufolge brauchen wir, um unsere Freundschaften wiederzubeleben, mehr „unstrukturierte Treffen“ – soll heißen: Verabredungen, in denen man einfach Zeit zusammen verbringt, ohne vorher konkrete Pläne zu schmieden. Das könnte uns dabei helfen, Treffen mit Freund:innen als etwas zu betrachten, das nicht viel Geld, Zeit oder Mühe erfordert – sondern als etwas, das ganz organisch in unser Leben passt und es bereichert.
Romantische Beziehungen würden wir wohl selten als „unkompliziert“ oder „ohne Aufwand“ bezeichnen. Es lohnt sich also, uns mal zu fragen, wieso wir Freundschaften diesen Blickwinkel aufdrücken. „Bei Freundschaften gehen wir oft davon aus, dass sie für immer bestehen bleiben – und demnach keine Pflege brauchen“, erklärt Bayard Jackson. „Deswegen sollten wir uns der körperlichen, emotionalen und mentalen Vorteile einer Freundschaft stärker bewusst sein. Es ist nämlich schwer, etwas als Priorität zu betrachten, dessen Wert wir gar nicht wirklich anerkennen.“
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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