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Milli Vanilli wurden von einer Branche benutzt, die Schwarze Artists missbraucht

Foto: Michael Putland/Getty Images.
Als das deutsche Duo Milli Vanilli in den späten 1980ern im musikalischen Mainstream auftauchte, wurden sie quasi über Nacht zum Hit und gehörten plötzlich zu den größten Künstler:innen der Welt. Ihre märchenhafte Erfolgsstory war aber nur von kurzer Dauer, nachdem die Öffentlichkeit ihr größtes Geheimnis entdeckte: Die beiden hatten die ganze Zeit bloß die Lippen bewegt, ohne tatsächlich zu singen – und es waren nicht mal ihre eigenen Stimmen, die in ihren Songs zu hören waren. Mehr als 30 Jahre nach dieser Enthüllung, die sie ihre Karriere kostete, beleuchtet eine neue Paramount+-Dokumentation die Kontroverse, die Milli Vanilli in die Versenkung stürzte, und offenbart die rücksichtslose, systematische Ausnutzung Schwarzer Künstler:innen.
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Fabrice Morvan und Robert Pilatus lernten sich in ihren Zwanzigern in München kennen und wurden aufgrund ihrer geteilten Liebe für Tanz und Musik direkt Freunde. Schon nach kurzer Zeit waren sie örtlich für ihre Partys und Performances bekannt – und erweckten die Aufmerksamkeit des Musikproduzenten Frank Farian. Der hatte vorher schon die deutsche Funk-Gruppe Boney M. entdeckt und produziert (unter anderem bekannt für ihren größten Ohrwurm „Rasputin“), und versprach den jungen Freunden Reichtum und Ruhm – unter der Voraussetzung, dass sie selbst nie auf ihren Platten sangen. Anfangs störten sich Morvan und Pilatus sehr an der Vorstellung, ihre Karriere auf einer solchen Lüge aufzubauen. Nachdem sie aber sahen, wie sie Farians verlogenes Konzept über Nacht zu Stars machte – inklusive ausverkaufter Konzerte, Tausenden Euro und globaler Berühmtheit –, freundeten sie sich mit der Täuschung an. Milli Vanilli mussten ihre Songs ja gar nicht selbst singen, redeten sie sich ein; sie selbst waren die Show.
Der Anfang vom Ende kam, als das Pop-Duo 1990 überraschend seinen ersten Grammy gewann und in der „Best New Artist“-Kategorie Größen wie die Indigo Girls und Soul II Soul ausstach. Das gefiel manchen in der Musikbranche überhaupt nicht. Anstatt sich jetzt unauffällig zu verhalten, um nicht aufzufliegen, stieg der neue Status als Grammy-Gewinner den beiden allerdings zu Kopf – und sie fingen an, zu behaupten, sie seien bessere Musiker als Superstars wie die Beatles oder Bob Dylan. Morvan und Pilatus wollten außerdem mehr kreative Kontrolle über ihre Musik übernehmen und selbst eigene Songs produzieren. Das sorgte allerdings dafür, dass es mit ihrer Beziehung zu Farian schnell bergab ging. Je mehr sich die beiden für ihre künstlerische Unabhängigkeit einsetzten, desto wütender wurde Farian – bis er beschloss, das gemeinsame Schiff ein für alle Mal zu versenken. Im November 1990 hielt Farian also eine Pressekonferenz ab und enthüllte, dass Morvan und Pilatus nur die Gesichter von Milli Vanilli waren. Bei der Konferenz stellte er außerdem die echten Stimmen hinter Milli Vanilli vor – Charles Shaw und John Davis, zwei bis dahin unentdeckte Schwarze Sänger. (Später versuchte Farian mit Shaw und Davis unter dem Namen „The Real Milli Vanilli“ noch mehr Geld zu machen.)
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Das hatte schnelle, heftige Konsequenzen: Milli Vanillis Fans fühlten sich mitunter so hintergangen, dass einige von ihnen die Musiker wegen Betrugs und organisierter Kriminalität anklagten, und in den Medien wurden die beiden jeden Tag öffentlich verrissen. Die Öffentlichkeit schien sich darin einig zu sein, dass die Schuld eindeutig und vollständig bei Morvan und Pilatus lag. Währenddessen kamen die treibenden Kräfte, die hinter dem Milli-Vanilli-Betrug gesteckt und damit Millionen verdient hatten, quasi ungeschoren davon – insbesondere Farian, das bösewichtartige Mastermind dahinter. Obwohl er selbst zugegeben hatte, dass er für die Lüge Milli Vanilli verantwortlich gewesen war (und nur ein paar Jahre zuvor dasselbe mit Boney M. durchgezogen hatte), blieb Farian nach der großen Enthüllung völlig verschont. Er schämte sich überhaupt nicht dafür, Milli Vanilli ins Leben gerufen und sie vertraglich dazu gezwungen zu haben, nur die Lippen zur Musik zu bewegen. Tatsächlich tat er das Ganze mit einem lachenden Schulterzucken ab und sagte, er sähe „kein Problem“ damit. Und damit hatte er Recht: Für ihn war das kein Problem. Für Morvan und Pilatus, die beiden Schwarzen Männer, die zum Gesicht eines der größten Betrugsfälle der Musikindustrie gemacht worden waren, aber sehr wohl.
„Um das mal klarzustellen: Milli Vanilli erreichte vor allem ein weißes Publikum“, erklärt der Autor und Kulturkritiker Hanif Willis-Abdurraqibin in der Dokumentation. „Ein Teil der Reaktion auf diesen Betrug war also etwas nach dem Motto: Ich kann nicht glauben, dass ich mir diese Schwarzen Typen angehört habe, die die Songs nicht mal selbst gesungen haben.“
Die Dokumentation schreckt nicht vor der Tatsache zurück, dass das Ausmaß der unmittelbaren Konsequenzen, die Morvan und Pilatus nach ihrem Auffliegen zu spüren bekamen, definitiv mit ihren vielschichtigen Identitäten als Schwarze Männer mit Migrationshintergrund zu tun hatten, die in einer Branche arbeiteten, die beinahe ausschließlich von älteren weißen Männern geführt wurde und ein ebenfalls größtenteils weißes Publikum erreichen wollte. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Karriere hatten Milli Vanilli keine echte Macht. Farian und die anderen Musikbosse, die Milli Vanillis Karriere mitaufgebaut hatten, waren die Puppenspieler, die das Aussehen und den Klang ihres Produkts bis ins Detail kontrollierten. Obwohl hohe Tiere beim Label – wie Clive Davis, Gründer von Arista Records – zwar vehement leugneten, von dem Betrug gewusst zu haben, ist es unmöglich, dass Milli Vanilli überhaupt existiert, geschweige denn so viel Erfolg gehabt haben könnte, ohne dass hinter den Kulissen alle Bescheid wussten.
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„Das müsst ihr verstehen: Wir wurden verführt, ausgenutzt, und wir fühlten uns sehr schuldig“, versuchte Pilatus bei einer Pressekonferenz zu erklären. „Wir verstehen nicht, warum wir, die beiden kleinen Jungs aus Deutschland – die Opfer! – plötzlich zu den Bösewichten gemacht werden, obwohl wir das nicht sind.“

Die Story von Milli Vanilli ist tragisch und schockierend, aber leider kein Einzelfall. In der Musikindustrie gibt es deprimierend viele Fälle von Schwarzen Künstler:innen, die rücksichtslos ausgenutzt wurden.

Die komplette Schuld für eine kollektive Lüge tragen zu müssen, lastete in den darauffolgenden Jahren schwer auf Morvan und Pilatus. Sie versuchten, mit ihren eigenen Stimmen als Rob & Fab durchzustarten, floppten aber, und dieser Misserfolg sorgte dafür, dass sich Pilatus in einem Abwärtsstrudel aus Depressionen und schwerem Drogenmissbrauch verfing. Darunter litt auch seine berufliche und persönliche Beziehung zu Morvan, und ihre Freundschaft zerbrach. Daraufhin trennten sich ihre Wege drastisch: Morvan schrieb und performte weiterhin eigene Songs als Solokünstler, während Pilatus, der immer noch unter dem schambelasteten Ende seiner Karriere litt, eine starke Drogensucht entwickelte und mit diversen rechtlichen Problemen in den Schlagzeilen landete. 1998 wurde Pilatus dann nach einer vermuteten Alkohol- und Medikamentenüberdosis in einem Frankfurter Hotelzimmer tot aufgefunden, mit nur 33 Jahren.
Die Story von Milli Vanilli ist tragisch und schockierend, aber leider kein Einzelfall. In der Musikindustrie gibt es deprimierend viele Fälle von Schwarzen Künstler:innen, die rücksichtslos ausgenutzt wurden. Der Rockstar Little Richard wurde von seinem Label Specialty Records brutal unterbezahlt und verdiente nur einen halben Cent an jeder verkauften Platte seines Chart-Hits „Tutti Frutti“. Chuck D von Public Enemy verklagte Universal Records 2011 auf 100 Millionen Dollar an unbezahlten Lizenzgebühren. Manchmal kommt es aber auch innerhalb der Schwarzen Community zu solchem Karrieremissbrauch – man denke nur an die vielen Vorwürfe gegen Diddys Bad Boy Records, Lil Waynes Beef mit Birdman und Cash Money Records, oder Megan Thee Stallions gerade abgeschlossene Verhandlung mit 1501 Certified Entertainment. Ganz egal, wie berühmt sie sind: Viele Schwarze Künstler:innen sind ihren Labelbossen schutzlos ausgeliefert, denen es nur um den allmächtigen Dollar geht – selbst auf Kosten ihrer eigenen Artists. Zahlreiche Schwarze Künstler:innen versuchen daher, auf diese Korruption aufmerksam zu machen und sie aktiv zu bekämpfen, zum Beispiel in Form von Organisationen wie der Black Music Action Coalition. Weil diese Ausnutzung aber so tief in der Musikkultur verwurzelt ist, kann es manchmal unmöglich erscheinen, da irgendwas zu reformieren.
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Es kann aber schon ein wichtiger erster Schritt sein, den entsprechenden Künstler:innen überhaupt eine Plattform zu geben, auf der sie ihre Wahrheit mit der Welt teilen können. Die Doku Milli Vanilli bietet uns einen Blickwinkel auf das Drama, aus dem damals niemand auf die Situation zu schauen schien. Sie gibt Morvan die Chance, seine Perspektive zu erklären – zum ersten Mal seit vielen Jahren. In seinen eigenen Worten erzählt er von der Vielzahl an Gefühlen, die er und Pilatus während ihrer kurzen, aber beeindruckenden Karriere durchlebten: Aufregung, Angst, Stolz, Nervosität, Leid. Bei der Berichterstattung über den Skandal drehte sich damals alles nur um Morvan und Pilatus, die als Bösewichte in dieser Täuschung dargestellt wurden. Sie bekamen nie die Gelegenheit, sich selbst zu verteidigen. Von der Gründung von Milli Vanilli bis hin zum jähen Ende der Gruppe wurden die beiden Sänger stillgestellt und ausgenommen, bis sie kein Geld mehr abwarfen. Diese Dokumentation kommt vielleicht mehrere Jahrzehnte zu spät – aber weil sie uns ein komplettes Bild des Gesichtsverlusts von Morvan und Pilatus bietet, weiß die Welt wenigstens jetzt, wer damals wirklich die Schuld trug: die geldgierige Industrie.
Milli Vanilli ist ab sofort zum Streamen auf Paramount+ verfügbar.
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